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Stoerfall - Nachrichten eines Tages

Stoerfall - Nachrichten eines Tages

Titel: Stoerfall - Nachrichten eines Tages
Autoren: Christa Wolf
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mehr lernen wir die Unerbittlichkeit der Zeit respektieren und fürchten. Man kann sich das Hirn zermartern nach Rechtfertigungen für Ungetanes, der Art: Aber ich habe stattdessen doch – gearbeitet, geschrieben.Es nützt ja nichts. Das Versäumnis wird als Schuld eingeklagt und ist nicht wiedergutzumachen –
    Nahe, sehr nahe kommen wir nun doch unserem blinden Fleck. – Ob es eigentlich naturnotwendig war, ob es keine andere Lösung für die Konstruktion des menschlichen Auges gegeben hätte als die, es mit einem blinden Fleck auszustatten? Jenem winzigen Punkt in der Netzhaut, wo der Sehnerv einmündet, der zum Gehirn führt. Schneller Trost: Unser anderes Auge gleiche diese minimale Lücke in unserer Wahrnehmung aus. Wer aber, oder was, kann uns helfen, jene Wahrnehmungslücke zu schließen, welche wir uns durch unsere spezielle Art und Weise, uns in dieser Welt zu behaupten, unvermeidlich selbst zuziehen müssen. Woher da Trost nehmen?
    Brüderlichkeit – ein Wort, das fällig war. Brüderlich verbunden, brüderlich geeinigt, brüderliche Kampfesgrüße. Den erbitterten Kampf der Brüder untereinander wollen wir nicht mehr kennen. Unsere stummen, unerbittlichen Kämpfe im Kinderzimmer. Die große Schwester renkt dem kleineren Bruder den Arm aus. Unaussprechbare Schande, daß die Kinder einer Mutter sich nicht innig lieben sollen. Wenn sein Arm steif bleibt, bist du schuld. Die Ur-Schuld. Das Ur-Verbrechen, das man nur am Bruder, an der Schwester begehen kann. Mutter und Vater, um deren Liebe der Kampf eigentlich entbrennt, ziehen sich hinter ein noch dichteres Tabu zurück. Die unendliche Dankbarkeit für den brüderlichenArm, der uns den Gefallen tut, nicht steif zu bleiben. Diesmal noch nicht. Diesmal bleibt es noch bei der Warnung, die wir zu beherzigen haben. Erleichtert beherzigen wir sie. Stoßen die Leidenschaften, die zu den zähen, erbitterten Kämpfen mit dem Bruder geführt hatten, in jenen Krater in uns, der sich, als Endlagerungsstätte für untragbare radioaktive Gefühle, frühzeitig genug gebildet hat. Was soll es uns nutzen, den dauernd im Auge zu behalten.
    Der blinde Fleck.
    Das Herz der Finsternis.
    Das hört sich gut an, aber etwas in mir bleibt unzufrieden. Wo, habe ich gedacht, müßte der blinde Fleck speziell bei mir, in meinem Gehirn liegen – falls er doch lokalisierbar sein sollte. Die Sprache. Das Sprechen, Formulieren, Aussprechen. Müßte das Zentrum höchster Lust nicht jenem finstersten Punkt benachbart sein? Der Gipfel neben dem Krater?
    Die Sprache. Das Sprechen. Es lohnt sich, darauf zurückzukommen. Ich spüre das aufgeregte Flimmern an den unscharfen Rändern meines Bewußtseins. Wenn eine Spezies einmal mit dem Sprechen begonnen hat, kann sie es nicht mehr aufgeben. Die Sprache gehört nicht zu den Gaben, die man nur versuchsweise, auf Probe, annehmen kann. Sie verdrängt viele unserer tierischen Instinkte. Auf die können wir nicht mehr – nie mehr! – zurückgreifen; wir haben uns endgültig aus dem Tierreich abgestoßen; der Säugling, der mit einer archaischen Reflexausrüstungzur Welt kommt, muß diese in wenigen Wochen ablegen, um sich normal, das heißt: zum Menschen, entwickeln zu können. Die Stirnlappen des Neocortex haben das Kommando übernommen. Kultur ist ihr Produkt. Sprache, Mittel der Überlieferung, ihre Voraussetzung.
    Was ficht mich also an? Mißtrauen ist es, Selbstverdacht. Mein Gehirn, über das Normalmaß hinaus empfänglich für Sprache, muß gerade über dieses Medium auf die Werte dieser Kultur programmiert sein. Wahrscheinlich ist es mir nicht einmal möglich, die Fragen zu formulieren, die mich zu radikalen Antworten führen könnten. Das Licht der Sprache hat auch ganze Bezirke meiner inneren Welt, die in meiner vorsprachlichen Zeit im Dämmerlicht gelegen haben mögen, ins Dunkel gestoßen. Ich erinnere mich nicht. An irgendeiner Stelle, oder an vielen Stellen, haben wir jene Wildheit, Unvernunft, Tierischkeit in die Kultur hineinnehmen müssen, die doch gerade geschaffen wurde, das Ungezähmte zu bändigen. Die Echse in uns schlägt mit dem Schwanz. Das wilde Tier in uns brüllt. Verzerrten Gesichts stürzen wir uns auf den Bruder und bringen ihn um. Dann möchten wir uns das Gehirn aus dem Kopf reißen und den wilden Punkt suchen, um ihn auszubrennen. Amok laufen, weil unser Gehirn durchbrennt.
    Aufstehn. Herumlaufen. In die Küche gehn, etwas mit den Händen tun. Brot schneiden. Kräuter hacken. Mitten in der Küche stehn, die Arme
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