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Stoerfall - Nachrichten eines Tages

Stoerfall - Nachrichten eines Tages

Titel: Stoerfall - Nachrichten eines Tages
Autoren: Christa Wolf
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schwenken, mit ihnen kreisen wie mit Windmühlenflügeln.Springen. – Jemand hat von draußen meinen Namen gerufen. Frau Umbreit, die Frau des Fischers, ist mit einem länglichen Paket vor der Tür gestanden. Sie essen doch Aal gerne? – Aber kommen Sie doch rein! (»Fisch, der radioaktive Speicher!«) Wir haben eine Weile in der Küche gesessen. Ich habe genauestens erfahren, auf welche Weise man Aal sauer einkocht, und Frau Umbreit ist ganz froh gewesen, daß sie mir die Geschichte von ihrem Sturz in die Kellerfalltür vor fünf Jahren noch nicht erzählt hatte. Wie sie sich gefühlt hat, da unten, das hat sie noch genau gewußt. Und dann: Ein Jahr lang Krankenhaus! Fünf Operationen! Da habe ich mir ihren manchmal leicht unsicheren Gang erklären können, nicht aber, immer noch nicht, wie sie bei ihrer Abneigung gegen Fisch einen Fischer hat heiraten können. Tja. Wo die Liebe eben hinfällt. Aber zurechtgemacht hat sie ihrem Mann seinen Fisch immer, da hat er sich nie beklagen können, und geschmeckt hat er ihm auch, einwandfrei. Nur bei manchen Fischen kann sie nichtmal die Sauce kosten, bei Wild übrigens auch nicht. Das sind so Vorurteile.
    Ich habe dann, nachdem Frau Umbreit gegangen war, angefangen, den Aal in Stücke zu schneiden, der, wenn ich ihn mit dem Messer berührte, heftig zu zucken begann. Eines der kopflosen, enthäuteten Aalstücke sprang mir vom Tisch und führte auf den Fliesen einen grotesken Tanz auf. Mir ist eine Gänsehaut den Rücken hoch bis in die Haarwurzeln gelaufen, ich habe laut gesagt: Das sind ja nur die Nerven!,habe einen Lappen genommen, jeden Aal fest gepackt und zerschnitten. Danach habe ich meine verbissenen Kiefer kaum auseinanderbekommen. Ich habe dann, nach der Vorschrift von Frau Umbreit, so viel Essig in das Kochwasser gegeben, daß es mir fast zu sauer erschien, und reichlich Zwiebeln, Lorbeer, Pfefferkörner, Salz, und habe den Aal zum Kaltwerden in eine Porzellanschüssel getan. Die ganze Küche ist in Fisch- und Essigdunst gehüllt gewesen.
    Ich habe, was ich zum Abendbrot essen wollte, aus dem Kühlschrank genommen und auf ein Tablett gestellt und bin damit über den immer noch sehr kalten Flur und die Diele, in der der Kalender mit dem Datum hängt, in das große Zimmer gegangen. Niemals würde ich vollkommen ausdrücken können, welche Empfindungen dieser Gang durch die gründämmrige Diele, dieser Blick auf ein Datum in mir auslösten. Ist es das wert, Bruder, ein Leben daranzusetzen, sich immer genauer, erkennbarer, unverkennbarer ausdrücken zu können? Manchmal schäme ich mich solcher rhetorischen Fragen nicht, besonders dann nicht, wenn ich gar kein Risiko eingehe, denn du hast auf sie immer zuverlässig reagiert und wirst das weiterhin tun, wirst entschieden werden, deine Starrköpfigkeit aus unseren Kindertagen wieder hervorkehren, wirst, wenn du es für nötig hältst, meine Obsessionen, die dir fremd sind, gegen mich in Schutz nehmen, einer der wenigen Menschen, die mich nicht anders haben wollen, als ich bin.
    (Fast fünf Monate nach jenem Tag, den ich hier immernoch beschreibe, macht man mich auf eine Zeitungsnotiz aufmerksam, die ich vor einigen Wochen übersehen haben muß: Ein namhafter junger Wissenschaftler habe das Kernwaffenforschungszentrum Livermore verlassen, nachdem er seinen Vertrag mit ihm gelöst hatte. Die Zeitung findet sich nicht mehr. Aufgeregt rufe ich die Redaktion an, eine Redakteurin erinnert sich an die Notiz, nicht an den Namen des Wissenschaftlers, verspricht aber, Nachforschungen anzustellen. Am nächsten Tag sagt man mir genau den Namen durchs Telefon, auf den ich nicht zu hoffen gewagt hatte: Der Mann heißt Peter Hagelstein. – Das gibt’s ja nicht! sage ich. Doch, doch, es steht hier, sagt die junge Redakteurin. Sie muß sich wundern über meinen Überschwang. Einer hat es geschafft. Nichts ist endgültig. Ich muß erneut über die Schicksale und Entscheidungen des modernen Faust nachdenken.)
    Nochmal das Telefon. Die Stimme der älteren Tochter hat müde geklungen, ich habe sie trotzdem mit der Frage überfallen: Was hältst du eigentlich für unseren blinden Fleck? – Ach Mutter! – Ich habe sie gefragt, ob in ihrer Antwort das Wort »Lebenslüge« vorkommen würde. – Nicht unbedingt, sagte sie, sie würde von dem Bereich unserer Seele, unserer Wahrnehmung sprechen, der für uns dunkel bleibe, weil es zu schmerzhaft wäre, ihn anzusehen. – Ich habe gesagt, eine Art Selbstschutz also, und sie hat diesen Verdacht
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