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Wächter der Seelen / Gefährlich wie ein Engel. Roman

Wächter der Seelen / Gefährlich wie ein Engel. Roman

Titel: Wächter der Seelen / Gefährlich wie ein Engel. Roman
Autoren: Annette McCleave
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1
    N och im Tod war sie schön.
    Der Morgennebel schimmerte auf ihrer blassen Haut und zauberte ein zartes Strahlen hervor, das im Widerspruch zu ihrem tragischen Schicksal stand. Das Gesicht, dank der strengen Nase und des königlichen Kinns einprägsam und unvergesslich, erinnerte inmitten der burgunderroten Wirrnis ihres Haars an einen Opal. Mit den geschlossenen Augen wirkte sie friedlich und bis auf die kleine Windpockennarbe in ihrem Mundwinkel makellos.
    Lachlan MacGregor fuhr mit dem Finger über ihren Kieferknochen und verzog das Gesicht. Die äußerliche Unversehrtheit war eine Lüge. Bald würden sich blaue Flecken als ebenso anschauliches wie grauenhaftes Abbild ihrer letzten Atemzüge auf dem Hals ausbreiten.
    Die Leiche lag am Ufer im Schilf, im Schatten eines Brückenbogens. Im spärlichen Licht des beginnenden Herbsttages war sie kaum zu erkennen. Nur ihre grünen Joggingshorts, die feucht und zerknüllt in einiger Entfernung auf dem Schotter lagen, markierten die Stelle. Der Angreifer war aus den Büschen gesprungen und hatte sie ans abgeschiedene Ufer hinabgezerrt. Und dann hatte er sie zum fünften toten Vergewaltigungsopfer der Stadt innerhalb von vierzehn Tagen gemacht. Als makabren Beweis dafür, dass im ruhigen San Jose lange nicht alles so war, wie es sein sollte.
    Sanfte Wellen spielten mit dem Haar der Frau, und Lachlans Gedanken verloren sich. Wartete zu Hause ein Mann auf sie, der ständig auf die Uhr sah und immer besorgter über ihr Ausbleiben wurde? Begann das hässliche Gefühl eigenen Versagens in seinem Magen zu wühlen? Würde er bald bereits bedauern, dass er bei ihrem Fortgehen geschlafen und die Gelegenheit versäumt hatte, sich von ihr zu verabschieden und sie ein letztes Mal zu küssen?
    Lachlan rieb sich übers Gesicht. Mit jeder Minute nahm der Verkehr auf der Brücke zu. In Kürze würden die Pendler die Fußgängerunterführung auf der anderen Uferseite verstopfen. Es war nicht klug, hier herumzutrödeln.
    Sein Blick fiel auf das perlweiße Mal auf der Wange der Toten: eine feine, dreifache Spirale, die nur ein Seelenwächter sehen konnte – die nur
er
sehen konnte. Lachlan schlug den Saum seines Gehrocks um, damit er nicht ins Wasser hing, beugte sich über die Frau und legte die Hand auf ihre kühle, nasse Kehle.
    Sofort kribbelten seine Finger, und hauchzarte Empfindungen krochen wie Weinranken seinen Unterarm hinauf – das vertraute Gefühl, dass eine Seele einen toten Körper verließ. Eine leichte, gütige Wärme begleitete diese Seele, während sie sich um sein Herz legte, und Lachlans Brust wurde weit. Gott, nicht Satan hatte diese Seele zu sich gerufen. Lachlans Arbeit war in beiden Fällen die gleiche, doch wenn er die Wahl hatte …
    Nun, da die Seele der Frau unter seinem Schutz stand, klappte er das Handy auf und wählte die Notrufnummer. Er ignorierte die Fragen des Disponenten und sagte nur: »Almaden Lake. Unter der Brücke an der Coleman Road liegt eine Leiche.«
    Dann richtete er sich auf. Der Zeitpunkt war denkbar ungünstig. Emily Lewis’ Schulbus würde in zehn Minuten über genau diese Brücke fahren und den Jugendlichen den unerfreulichen Ausblick auf den Schauplatz eines Verbrechens gewähren. Aber daran ließ sich nun einmal nichts ändern.
    Als er das Handy in die Hosentasche steckte und sich dem Parkausgang zuwandte, kam es in der Luft vor ihm zu einer blitzartigen elektrischen Entladung. Lachlan blieb stehen. Normalerweise war eine Visite im Gefolge einer Seelenkollekte ein gutes Zeichen. Es bedeutete, dass er heimgehen konnte, um auszuspannen und das Sonntagskreuzworträtsel zu beenden.
    Aber dieser Blitz war rot gewesen. Nicht blau.
    Die Luft unter dem halbdunklen Brückenbogen knisterte und sirrte, und in rascher Folge schossen drei weitere sprühende Lichtgabeln aus dem Boden zu seinen Füßen hinauf zur Brücke. Die transparente Kuppel, die ihn und alles im Umkreis von etwa zehn Metern vor menschlichen Blicken verbarg, spürte er mehr, als dass er sie sah. Wer von jetzt an über das Brückengeländer spähte, um herauszufinden, was es mit den Lichtblitzen auf sich hatte, würde nichts als das stille Ufer des Flusses erblicken.
    Lachlan fasste hinter seinen Kopf und zog sein Schwert aus dem ledernen Wehrgehänge, das sich unter dem Jackett wölbte. Die Klinge klirrte beruhigend, als sie den metallenen Ring des Schafts berührte. Dieses Geräusch, das stets einem Kampf vorausging, ließ den Adrenalinpegel in Lachlans Blutkreislauf
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