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Stoerfall - Nachrichten eines Tages

Stoerfall - Nachrichten eines Tages

Titel: Stoerfall - Nachrichten eines Tages
Autoren: Christa Wolf
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partout kein Bus gegangen, und »unser Vater«, so hat sie den alten Weiß, ihren Mann, genannt, lasse sie über Nacht nicht weg, sie lebe hier wie in Gefangenschaft. Da hat der alte Weiß behaglich gesagt, das wäre ja auch noch schöner! Die Frau gehöre ins Haus. Da hören Sie es selbst, hat da seine Frau gesagt, so gehe es nun seit vierzig Jahren.
    Die Bilder sollten wir doch kennen, Bruder. Ich jedenfalls kenne nur zu genau die Bilderserie vom Flüchtlingsmädchen, das mit seiner Mutter auf einem gottverlassenen Gutsdorf in einer Kate unterkriecht, wo nur die Landarbeiterfrau ist, die dann fast gleichzeitig mit der Mutter des Mädchens am Typhus stirbt, der, wir wissen es ja, gleich nach dem Krieg den mecklenburgischen Landstrich heimgesucht hat, so daß der Katenbesitzer, der Stallarbeiter Weiß, nur dieses fremde Mädchen vorfindet, als er aus der Gefangenschaft kommt: blutjung, mutterseelenallein, verschüchtert, heimatlos, ohne ein anderes Unterkommen als seine Kate. Da geht es denn, wie es gehen muß, das Leben, sagt Frau Weiß in dem gleichen Ton, in dem sie sagen würde: das Unglück,und da ich dazu neige, großes Unglück aus den vielen kleinen Unglücken herzuleiten, neige ich auch dazu, kleine Unglücke bessern zu wollen, und denke, man müßte sich um eine regelrechte tägliche Buslinie kümmern. Ach, hat Herr Gutjahr gesagt, der sich selbst gern »Postminister« nennt, was man nicht alles müßte! Er ist stolz auf seine Umsicht, immer eine kleine Geldreserve bereit zu haben, falls jemand, wie ich heute, eine gewisse Summe abheben möchte. Geht alles, sagt er. Geht immer, man muß nur wollen, hab ich recht oder hab ich recht! Und ob ich denn nachts keine Angst hätte, so alleine in dem Haus. Vor wem denn, habe ich gefragt, und da hat er gesagt: Da haben nun Sie wieder recht. Wie es ihn, einen Invaliden, aus dem Sächsischen hierher verschlagen hat; wie er Lohn und Brot fand für sich und seine große Familie, das habe ich mir alles gerne noch einmal angehört. Gerne habe ich ein paar Rote-Kreuz-Lose aus dem langen schmalen Kasten gezogen, den Millionengewinn habe er aber gut versteckt, hat Herr Gutjahr gesagt, und wir haben gelacht, dann habe ich das zweite Los aufgerissen und ihm hingehalten: Fünf Mark. Dunnerlittchen! hat Herr Gutjahr gesagt. Er hat nicht wissen können, wie sehr ich diesen Gewinn gebraucht habe, abergläubisch, wie ich an dem Tag gewesen bin. Und daß ich für die fünf Mark dann fünf Nieten gezogen habe, das hat mir überhaupt nichts mehr ausgemacht. Wie gewonnen, so zerronnen, hat Herr Gutjahr gesagt, und er hat schnell zwischendurch einen jungen Kollegenaus dem Stall bedient, der ein Einschreiben abgeholt und eine Alkoholfahne in dem winzigen kahlen Postraum hinterlassen hat. Alimentenforderung, hat Herr Gutjahr gesagt. Der saufe nun noch mehr, seit er geschieden sei. Viel getaugt habe dessen Frau ja auch nicht, aber welche Frau lasse sich schon heute noch schlagen, wenn der Mann duhn sei, das solle ich mal selber sagen. Kaum eine, habe ich gesagt und die Frage nicht unterdrücken können, was denn Herr Gutjahr zu dem Reaktorunglück sage. Ach wissen Sie, hat er gesagt. Geschehen ist geschehen. Und ob da nicht immer auch viel übertrieben werde? Er jedenfalls habe in seinem Leben schon in schlimmerem Schlamassel dringesteckt. Und was solle einem alten kranken Mann wie ihm schließlich noch passieren. Für alles gebe es ein Sprichwort. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. Daran halte er sich, und auf das ganze Krakeelen im Radio höre er gar nicht so genau hin –
    Die Operation könne drei bis vier Stunden dauern. Knapp zwei Stunden sind jetzt vorbei, und es beginnt anstrengend zu werden, Bruder, das spüren wir. Wie übrigens vergeht inzwischen deine Zeit? Welche Strecke legst du zurück, in welchem Gelände, während ich die vier-, fünfhundert Schritte von der Poststelle zu unserem Haus gegangen bin. Da ist etwas passiert, was mich veranlaßt hat stehenzubleiben. He, Bruder. Was ist los? Läßt du dich gehen? Jetzt hör mir mal gut zu. Wir schreiben das Jahr neunzehnhundertsechsundachtzig.Du bist dreiundfünfzig Jahre alt. Das, was wir Leben nennen, ist da noch lange nicht zu Ende. Da gibt es, verdammt nochmal, nicht nur diese stumpfsinnigen, abgelebten Zellen in dir, die, tödlich sich langweilend, zu ewiger Wiederholung verurteilt, immer nur das eine können: Tumore bilden. Da gibt es doch noch die anderen, die Millionen, was sag ich! Milliarden von Zellen –
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