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Stoerfall - Nachrichten eines Tages

Stoerfall - Nachrichten eines Tages

Titel: Stoerfall - Nachrichten eines Tages
Autoren: Christa Wolf
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und jetzt solle ich ihr mal einen besseren Grund nennen für Schlaflosigkeit.
    Ja, habe ich gesagt. Nein. Andererseits –
    Mutter! hat sie da gesagt, nun solle ich aber aufhören. Wo ich doch Bescheid wisse, oder? Die lernen doch nichts, hat meine jüngere Tochter gesagt. Die sind doch alle krank. Oder was noch passieren müsse, als daß die Milch weggekippt werde, tausendliterweis, und daß man fürchten müsse, mit den besonders gesunden Nahrungsmitteln die Kinder besonders schnell zu vergiften. Während auf der anderen Seite des Erdballs die Kinder zugrunde gingen, weil ihnen genau diese Nahrungsmittel fehlten.
    Während wir eine Weile nichts gesagt haben, ist es mir wieder so vorgekommen, als würden unsere Gedanken sich wundreiben an einem äußerst trickreich versteckten Geheimnis. Ich habe auch Bilder ablaufen sehen, die ich nicht zu beschreiben gedenke. Dabei habe ich mich aber fragen müssen, ob ich nicht seit langem schon diejenigen Bilder, die mir auftauchten, greller und gegen mich selbst rücksichtsloser hätte beschreiben müssen, aber ich habe zugleichgewußt, daß dies nicht die Frage war, und obwohl ich gespürt habe, daß alles, was in mir vorging, unscharf blieb, ungenügend in jedem Sinn, habe ich wieder einmal bewundern können, wie schlafwandlerisch sicher alles ineinandergreift: der meisten Menschen Lust auf ein bequemes Leben, der meisten Neigung, den Rednern hinter den erhöhten Pulten und den Männern im weißen Kittel zu glauben, jedermanns Übereinstimmungssucht und Widerspruchsangst scheinen dem Machthunger und der Arroganz, der Gewinnsucht, der skrupellosen Neugier und der Selbstverliebtheit der wenigen zu entsprechen. Was war es denn, was an dieser Rechnung nicht stimmen konnte?
    Ich habe die Tochter aufgefordert, noch irgend etwas zu erzählen, am liebsten von den Kindern. Da habe ich gehört, der Kleine hätte sich eine Flügelschraube auf den Daumen gelegt und sei mit hoch erhobener Hand durch die Küche stolziert: Kasper bin. Kasper bin. Die Vorstellung hat mich elektrisiert. Woher er denn wisse, was ein Kasper sei. Und ob es üblich sei, daß ein Kind von anderthalb Jahren sich verwandele. Nicht nur sich selbst, hat sie gesagt, ein jedes Ding. Ein Schneebesen, dem man einen Topflappen auf den Kopf lege, sei eine alte Frau, die tanze auf dem Küchentisch, und wenn Marie ihr mit einem anderen Topflappen eine runterhaue und die Alte zu jammern anfange, dann weine der Kleine, daß ihm die großen Tränen nur so die Backen runterkullerten und man das Spiel abbrechen müsse.
    Die kleinen Jungs, habe ich gesagt. Was sie mit denen anstellen müssen, um sie hart zu kriegen.
    Dafür, hat die jüngere Tochter gesagt, rächten sie sich später, da sei sie sicher. Wem man die Liebesfähigkeit austreibe, der müsse dann andere hindern zu lieben.
    Bei dem Kleinen, habe ich gesagt, müßten wir aber aufpassen.
    Nur über meine Leiche, hat meine jüngere Tochter gesagt und hat von Marie erzählt. Marie habe einen Freund, Julius. Den bringe sie fast jeden Tag aus dem Kindergarten mit, und dann setzten die beiden sich, abseits von den anderen, Hand in Hand auf ein Bänkchen und fragten sich gegenseitig: Bist du mein Freund? Ich bin dein Freund. Bist du auch mein Freund? Und dann würden sie vom selben Kuchenstück abbeißen und aus einer Tasse trinken, und der Kleine baue sich vor den beiden auf, die Hände auf dem Rücken, und sehe und höre ihnen gierig und andächtig zu.
    Hör mal, habe ich gesagt, Shakespeare und die griechische Tragödie würden mich jetzt kaltlassen im Vergleich mit deinen Kindergeschichten. Ob sie übrigens wisse, daß die Strahlenbelastung zur Zeit der überirdischen Kernwaffentests in den sechziger Jahren größer gewesen sein solle als jetzt.
    Du verstehst zu trösten, hat meine jüngere Tochter gesagt –
    Die Sonne hat jetzt voll auf dem Haus gelegen und auf der Wiese zur Straße hin. Man hat sehenkönnen, dies würde einer der schönsten Tage des Jahres. Er fehlt dir, Bruder. Womit deine Sinne auch beschäftigt sein mögen – diesen Tag nehmen sie nicht wahr. Dieser makellos blaue Himmel entgeht dir, dieses Sinnbild von Reinheit, auf dem sich heute die bangen Blicke von Millionen treffen. Deine Ärzte, nach dem säuberlichen hakenförmigen Schnitt über der rechten Augenbraue, nachdem sie alle Blutgefäße sorgfältig abgeklemmt, die Kopfhaut nach beiden Seiten so weit wie möglich auseinandergezogen haben, die Hirnmasse beiseite geschoben und in Folie verpackt,
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