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Stoerfall - Nachrichten eines Tages

Stoerfall - Nachrichten eines Tages

Titel: Stoerfall - Nachrichten eines Tages
Autoren: Christa Wolf
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Küchentisch habe sehen können, in seinem satten Grün. Ich habe das Wort gesucht für seinen Zustand. »Matte«. Eine grüne Matte. Auf dem Lande ist man immer in Gefahr, auf veraltete Vokabeln zurückzugreifen.
    Der Himmel ist an jenem Tag wolkenlos gewesen. (Warum habe ich eben »tote Zeit« gedacht?) In deinem kühlen Schatten / Auf deinen weichen Matten / du liebster Aufenthalt / du liebster Aufenthalt. Lieder, die mir jahre-, jahrzehntelang nicht in den Sinn gekommen sind. Jener Instanz, die ihr kritisches Auge auf alles geworfen hat, was ich zu mir genommen habe, habe ich mitgeteilt, die Eier in meinem Kühlschrank seien vor dem Unfall im Hühnerleib gewachsen, mit unbestrahltem Gras, unbestrahlten Körnern ernährt worden, direkt im Konsum abgeliefert und daher ungestempelt und garantiert frisch. Aber eben auch nicht zu frisch. Nicht etwa von gestern.
    O Himmel, strahlender Azur.
    Nach welchen Gesetzen, wie schnell breitet sich Radioaktivität aus, günstigenfalls und ungünstigenfalls. Günstig für wen? Und nützte es denn den unmittelbar am Ort des Ausbruchs Wohnenden wenigstens, wenn sie sich, durch Winde begünstigt, verbreitete? Wenn sie aufstiege in die höheren Schichtender Atmosphäre und sich als unsichtbare Wolke auf die Reise machte? Zu meiner Großmutter Zeiten hat man sich unter dem Wort »Wolke« nichts anderes vorstellen können als kondensierten Wasserdampf. Weiß, womöglich, ein mehr oder weniger schön geformtes, die Phantasie anregendes Gebilde am Himmel. Eilende Wolken, Segler der Lüfte / Wer mit euch wanderte, wer mit euch schiffte ... Der käm woandershin. Kommentar unserer Großmutter, die niemals reiste, wenn man sie nicht aussiedelte. Warum, Bruder, sind wir so bewegungssüchtig?
    Das Pflaumenmus, das wir voriges Jahr, stöhnend unter der Last der Pflaumenernte, selbst hergestellt haben, fände ihren Beifall. Sie pflegte es mit Zimt zu überpudern, das haben wir ihr nicht nachgetan. Sie wiederum würde nicht den trockenen Brotkanten in Plaacks Futtereimer stecken, wie ich es nach kurzem Zögern getan habe. Sie würde aus dem harten Brot zum Wochenende eine Brotsuppe kochen, mit Rosinen, auf polnische Art, das einzige Gericht, das mir bei ihr nicht schmeckte. Sündhaft, sagte sie – ein Wort, das sie sonst nicht brauchte –, sündhaft wäre es, Brot wegzuwerfen, das solle ich mir merken. Ihr einziger Merksatz. Bescheiden ist sie gewesen, unsere Großmutter, Bruder –
    Wir leben. Nicht gerade üppig im Augenblick, das würde ich dir zugestehen, soweit es dich betrifft. Vielleicht nicht gerade an einem seidenen, aber an irgendeiner Artvon Faden hängt dein Leben doch. Am Perlonfaden, nehme ich an. Zu denken, daß ein metallenes Instrument gerade jetzt an deiner Hirnhaut entlangfährt, vermutlich die Hirnmasse beiseite schiebt, um Platz zu schaffen für ein anderes Instrument, an dessen Ende sich ein Mikroskop befindet ... Gestern, als wir noch einmal miteinander telefonierten, habe ich dir nicht erzählt, was ich kürzlich im Fernsehen sah: einen Computer, speziell für Operationen am menschlichen Gehirn entwickelt, auf eine Genauigkeit von hundertstel Millimeterschnitten programmiert, unfehlbarer als die menschliche Hand, so hieß es. Wir aber haben uns gegenseitig versichert, auf die Erfahrung und das Fingerspitzengefühl deines Chirurgen könne man sich hundertprozentig verlassen –
    Ich bin stehengeblieben, die Tasse in der Hand, die ich in den Abwasch stellen wollte, und habe mehrmals hintereinander so stark ich konnte gedacht: Du kannst dich auf die Erfahrung und das Fingerspitzengefühl deines Chirurgen verlassen. Auf dem Weg zur Post habe ich beim alten Weiß haltgemacht und habe wieder denken müssen, daß er eher wie ein abgemusterter Kapitän aussieht und nicht wie ein ehemaliger Stallarbeiter. Ehemaliger? hat er gesagt. Von wegen! Auch dieses Jahr wieder werde er seine Anzahl Kälber in Pflege nehmen, ganz davon abgesehen, daß er die Mildenitz beangeln und die Koppeln am Dorfsee nach Champignons absuchen werde. Dreiundachtzig sei doch kein Alter. Ob er es allerdingsschaffe, neunzig zu werden wie sein Vater ... Na was denn! hat seine Frau gesagt, die mit den Wassereimern aus der Tür trat. Ob er etwa auf einmal sterben wolle! – Der Winter? Ach, hat sie gesagt, schlimm, schlimm sei der gewesen. Diese Heizerei mehrmals am Tag, und daß die Kälte überhaupt kein Ende habe nehmen wollen. Und daß man nicht weggekommen sei, nichtmal zum Sohn in die Stadt, es sei ja
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