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Magie und Schicksal - 2

Magie und Schicksal - 2

Titel: Magie und Schicksal - 2
Autoren: Michelle Zink
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    M it den schweren Kleidern auf dem Arm verlasse ich mein Zimmer. Es gibt keine Fenster, durch die Licht hätte fallen können, und so gehe ich vorsichtig durch den Korridor, dessen mit kostbaren Tapeten verkleidete Wände nur spärlich vom flackernden Licht der Gaslampen erhellt werden. Milthorpe Manor befindet sich seit Generationen im Besitz meiner Familie, aber es ist mir trotzdem lange nicht so vertraut wie Birchwood, das Landgut in New York, wo ich geboren wurde und aufwuchs.
    Aber immerhin leben in diesem Haus nicht die Geister der Vergangenheit. Hier erinnert mich nichts an meinen jüngeren Bruder Henry, der mir so grausam genommen wurde. Ich muss keine Angst haben, meine Zwillingsschwester im dunklen Zimmer vorzufinden, dem ehemaligen Gemach meiner verstorbenen Mutter, wo sie flüsternd entsetzliche, verbotene Dinge beschwört. Ich muss nicht fürchten, sie zu jeder Stunde durch das Haus schleichen zu sehen.

    Jedenfalls nicht in Fleisch und Blut.
    Es war Tante Virginias Idee, dass ich mir bei Sonia und Luisa Rat hole, welches Kleid ich zum Maskenball heute Abend tragen soll. Meine Tante versucht zu helfen, aber sie kann nichts daran ändern, dass unsere Freundschaft eine Veränderung erfahren hat, die mich nur noch selten die Gesellschaft der beiden Mädchen suchen lässt. Eigentlich geht es nur um Sonia. Es ist schon Wochen her, seit sie und Luisa aus Altus nach London kamen, aber die Spannung, die sich gleich am Anfang zwischen uns breitmachte, ist nicht gewichen. Im Gegenteil: Mit jedem Tag, der vergeht, scheint sie anzuwachsen. Ich habe versucht, Sonia den Verrat, den sie auf unserer Reise nach Altus an mir beging, zu verzeihen. Ich versuche es immer noch. Aber jedes Mal, wenn ich in ihre eisblauen Augen schaue, muss ich daran denken.
    Ich denke daran, wie ich ihr liebes Gesicht über mir sah, wie ihre warmen Hände mir das verhasste Medaillon auf die weiche Haut an der Unterseite meines Handgelenks drückten. Monatelang tauschten wir jede Vertraulichkeit aus, und dann versuchte mir die Freundin, die ich mehr liebte als jede andere, fiebrig die Worte der Seelen einzuflüstern, die mich als Tor benutzen wollen, um Samael in unsere Welt zu bringen.
    Ich muss an all das denken und merke, wie sich mein Herz noch ein wenig mehr verhärtet.
    Der Maskenball ist eine der beliebtesten Veranstaltungen der Gesellschaft. Sonia, Luisa und ich freuen uns seit
Wochen auf dieses Ereignis, aber während meine beiden Gefährtinnen keine Mühe hatten, ihre Kostüme zu erwählen, blieb ich unentschlossen.
    Meine Maske bereitete mir keine Schwierigkeiten. Vor Längerem schon habe ich sie entworfen. Ich wusste sofort, wie sie aussehen sollte, obwohl ich noch nie an einem Maskenball teilgenommen hatte und in Modeangelegenheiten nicht besonders kreativ bin. Aber sie stand mir so deutlich vor Augen, als hätte ich sie in einem Schaufenster gesehen. Ich habe sie einer Näherin beschrieben, die sie auf ein Stück Papier aufzeichnete. Sie sah genauso aus, wie ich sie mir vorgestellt hatte.
    Weil ich mich nicht für ein Kostüm entscheiden konnte, war es nicht möglich, mir eins nähen zu lassen. Stattdessen muss ich mich nun mit einem Kleid begnügen, das bereits in meinem Schrank hängt. Wie Tante Virginia vorgeschlagen hat, will ich Sonia und Luisa um Hilfe bei meiner Entscheidung bitten, aber was früher eine Angelegenheit innigster Freundschaft gewesen wäre, die ich aus tiefstem Herzen genossen hätte, ist nun eine Last, vor der mir graut. Denn ich muss dabei in Sonias Augen schauen.
    Und ich muss dabei lügen. Und lügen. Und lügen.
    Vor Luisas Tür angekommen, hebe ich die Hand, um zu klopfen, halte aber inne. Ich höre laute Stimmen von drinnen. Eine davon gehört Sonia. Als sie meinen Namen ausspricht, klingt sie entmutigt. Ich beuge mich vor und lausche unverfroren.
    »Mehr kann ich nicht tun. Ich habe mich immer und
immer wieder entschuldigt. Ich habe mich klaglos den Ritualen der Schwesternschaft von Altus unterworfen. Lia will mir nicht vergeben, egal, was ich anstelle. Ich fange an zu glauben, dass sie mir niemals vergeben wird«, sagt Sonia.
    Dem Rascheln von Röcken folgt das Zuschlagen einer Schranktür. Dann höre ich Luisas Antwort: »Unsinn. Vielleicht solltest du ein bisschen Zeit mit ihr verbringen. Hast du sie gefragt, ob sie mit dir in Whitney Grove ausreiten möchte?«
    »Mehr als einmal, aber sie findet immer eine Ausrede. Wir waren seit unserer Rückkehr aus Altus nicht mehr dort. Seit … seitdem
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