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Das Kind des Schattens

Titel: Das Kind des Schattens
Autoren: Guy Gavriel Kay
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Kapitel 1
     
    »Hast du einen Herzenswunsch?« Kim Ford hatte gerade erst zu studieren begonnen – sie war eine der Jüngsten an der Universität und sah obendrein für ihr Alter noch jung aus –, da hatte ihr ein Verehrer diese Frage bei einem ersten Rendezvous mit Cappuccino gestellt. Sie war sehr beeindruckt gewesen. Später, als sie nicht mehr so jung war, hatte sie oft lächeln müssen, wenn sie daran dachte, dass er es fast geschafft hätte, sie ins Bett zu kriegen … mit ein paar Redensarten und einer Einladung in ein schickes Restaurant. Die Frage allerdings hatte sie nicht vergessen.
    So viel älter war sie inzwischen nicht geworden, aber sie hatte weiße Haare und war so weit weg von zu Hause, wie sie sich nur vorstellen konnte – und jetzt wusste sie eine Antwort auf diese Frage.
    Ihr Herzenswunsch war es, dass der bärtige Mann mit den grünen Tätowierungen auf seiner Stirn und seinen Wangen, der über ihr stand, einen sofortigen und schmerzvollen Tod erleiden sollte.
    Die Stelle, wo er sie getreten hatte, schmerzte, und jeder noch so flache Atemzug verursachte ein heftiges Stechen. Neben ihr lag zusammengekrümmt Brock von Banir Tal. Aus einer Wunde am Kopf sickerte Blut. Aus ihrer Position konnte Kim nicht erkennen, ob der Zwerg noch lebte oder nicht, und hätte sie in diesem Augenblick töten können, dann wäre der tätowierte Mann tot gewesen. Sie schaute um sich – wie durch einen Dunst von Schmerzen. Sie waren auf einem Hochplateau von etwa fünfzig Männern umringt, und die meisten von ihnen trugen die grünen Tätowierungen von Eridu.
    Sie blickte auf ihre Hand nieder und sah, dass der Baelrath ganz ruhig war, lediglich ein in einen Ring gefasster roter Stein. Sie konnte keine Kraft aus ihm ziehen, sie konnte ihr Verlangen nicht stillen.
    Im Grunde war sie davon nicht überrascht. Der Kriegsstein hatte ihr mit seiner Kraft von Anfang an nichts als Not und Schmerz gebracht, und wie hätte es auch anders sein können? »Weißt du«, sagte der bärtige Eridu mit scharfem Spott, »was die Dalrei da unten vollführt haben?«
    »Was, was haben sie getan, Ceriog?« fragte ein anderer Mann. Er trat ein wenig nach vorn, löste sich aus dem Kreis der Männer. Kim sah, dass er älter war als die meisten von ihnen. Sein dunkles Haar war von grauen Strähnen durchzogen, und er trug keine Spur der grünen Tätowierungen.
    »Ich dachte, dass es dich interessieren würde«, entgegnete der eine, der mit Ceriog angesprochen wurde, und lachte. In seinem Tonfall lag etwas Verstörtes, was nach Schmerz klang. Kim versuchte, es nicht zu hören, aber sie war eine Seherin, und dieses Lachen ließ eine Vorahnung in ihr aufkeimen. Wieder sah sie zu Brock hinüber. Er hatte sich nicht bewegt. Noch immer tröpfelte das Blut langsam aus seiner Wunde an der Seite seines Kopfes.
    »Ja, es interessiert mich«, bestätigte der andere Mann sanft.
    Ceriog hörte auf zu lachen. »Letzte Nacht sind sie nach Norden geritten«, fuhr er fort, »alle von ihnen, nur die Blinden nicht. Sie haben Frauen und Kinder schutzlos in ihrem Lager östlich des Latham gerade unter uns zurückgelassen.«
    Die zuhörenden Männer murmelten und sprachen unter sich. Kim schloss die Augen. Was war dann geschehen? Was konnte Ivor dazu getrieben haben, so etwas zu tun?
    »Was«, fragte der alte Mann noch immer ruhig, »hat das mit uns zu tun?«
    Ceriog trat einen Schritt auf ihn zu. »Du bist mehr als ein Dummkopf«, hielt er ihm vor. »Selbst unter Ausgestoßenen bist du ein Ausgestoßener. Warum sollte irgend jemand von uns dir deine Fragen beantworten, wo du uns doch nicht einmal deinen Namen nennst?«
    Der andere Mann hob ein wenig seine Stimme. Auf dem windstillen Plateau war sie gut hörbar. »Ich war mehr Jahre im Vorgebirge und in den Bergen«, sagte er, »als ich mich überhaupt erinnern kann. In all diesen Jahren habe ich Dalreidan als meinen Namen angegeben. Des Reiters Sohn nannte ich mich, und bis heute hat das noch niemand in Frage gestellt. Was kann es dich kümmern, Ceriog, wenn ich das Grab meines Vaters nicht entehren wollte und deshalb seinen Namen aus dem meinigen entfernte?«
    Ceriog schniefte verächtlich. »Alter Mann, es gibt hier keinen, der kein Verbrechen begangen hätte. Warum solltest du anders sein?«
    »Weil ich eine Mutter und ein Kind getötet habe.«
    Kim öffnete die Augen und sah im Licht der Nachmittagssonne zu ihm hinüber. Stille lag auf dem Plateau, nur unterbrochen von Ceriogs Gelächter. Und wieder hörte
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