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Stoerfall - Nachrichten eines Tages

Stoerfall - Nachrichten eines Tages

Titel: Stoerfall - Nachrichten eines Tages
Autoren: Christa Wolf
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seien, uns selbst zu zerstören, eingreifen würden. Wie, das hat natürlich Fritz Prochnow auch nicht gewußt; aber daß sie es tun würden – dessen war er ganz und gar sicher. Nun, im Konsum, hat er zu mir gesagt: Sehen Sie. Wir brauchen gar keinen Krieg. Wir sprengen uns mitten im Frieden in die Luft. – Und? habe ich gesagt. – Warten Sie’s ab! hat der junge Prochnow gesagt. Er liest sämtliche Bücher über Astronomie und Zukunftsforschung und sämtliche utopischen Romane, die er finden kann. Ihm kann keiner erzählen, daß die Menschheit erschaffen und verurteilt wurde, all dieMühen ihrer Entwicklung auf sich zu nehmen, all das zu ertragen, was sie ertragen mußte, um sich dann am Ende selbst zu vernichten. Das kann mir keiner erzählen, hat er gesagt. Das soll glauben, wer keine Kinder hat. Ich habe drei Kinder. Ich glaub das nicht.
    Ich bin zurückgefahren, auf der abfallenden Pflasterstraße unter den alten Linden, an der uralten Dorfkirche vorbei, die nicht mehr benutzt wird, ich habe den Lenker sehr festhalten müssen, das Rote-Kreuz-Auto ist weg gewesen, ich habe mich gefragt, ob die Betrachtungsweise von Fritz Prochnow – daß wir alle ferngelenkte Wesen sind, die an Fäden laufen, welche andere in der Hand halten – ihm die Sache erleichtert oder nicht. Auf der Straße haben einige ältere Frauen zusammengestanden, ich habe kurz angehalten und erfahren, daß es Herr Weiß gewesen ist, den das Rote-Kreuz-Auto abgeholt hat: Umgefallen sei er, seiner Sinne nicht mächtig, es sehe nicht gut aus mit ihm. Ganz von allein hat mein Rad den Bogen zur Postfächerreihe gemacht; als die Schließklappe heruntergefallen ist, fiel ein halbes Dutzend Briefe hinterher. An den Zeitungen habe ich zerren müssen. Ich habe das Rad über die Straße geschoben, einen Blick auf die Absender der Briefe geworfen. Auf zwei, drei bin ich neugierig gewesen –
    Es ist mir eine ungute Vorstellung geblieben, daß man einen Schädelknochen, zum Beispiel ein Stirnbein, technisch nicht anders behandelt als ein Stück Metall,wenn man ein Segment aus ihm herausschneiden will: Man setzt einen Bohrer an. Wahrscheinlich ist es auch eine simple mechanische Pumpe, mit der man das Gehirnwasser abpumpt, welches den eigentlichen Eingriff behindern würde. Ein Teil des Kopfschmerzes, der nach der Operation zu erwarten steht, beruht ja auf dem Tatbestand der fehlenden und sich allmählich erst wieder sammelnden Gehirnflüssigkeit –
    Wieder einmal, so ist es mir vorgekommen, hatte das Zeitalter sich ein Vorher und Nachher geschaffen. Ich könnte mein Leben beschreiben, ist mir eingefallen, als eine Folge solcher Einschnitte, als eine Folge von Eintrübungen durch immer dichtere Schatten. Oder, im Gegenteil, als fortlaufende Gewöhnung an härtere Beleuchtungen, schärfere Einsichten, größere Nüchternheit. Obwohl ich gewußt habe, daß ich nicht ganz zufällig den Weg über den Grashügel nahm, nicht ganz ziellos meine Augen über den großen Kleeflecken schweifen ließ, aus dem wir schon so manches vierblättrige Kleeblatt herausgeholt haben, habe ich doch einen Freudenlaut ausgestoßen, als ich ein großes Vierblatt sah. Ich finde sie nur, wenn niemand da ist, der sie mir suchen könnte.
    Wie herrlich leuchtet mir die Natur.
    Vielleicht ist es nicht die dringlichste Frage, was wir mit den Bibliotheken voller Naturgedichte machen. Aber eine Frage ist es schon, habe ich gedacht. Mir ist bewußt geworden, daß ich genau auf derStelle gestanden bin, die ich seit einer Woche zu meiden suchte, wenn ich nicht gerade gierig auf vierblättrige Kleeblätter gewesen bin. Seit jene Familie – Vater, Mutter, Sohn; und die Mutter ist in diesem selben Haus, in dem jetzt wir die Sommer verbringen, groß geworden – vorige Woche hier über die Wiese gekommen ist und sich umgesehen hat, wie Leute sich umsehn, die wissen, was sie suchen. Seit die Frau, heute Krankenschwester, korpulent, dauergewelltes Haar, mich unterrichtet hat, was hier, auf diesem Flecken, auf dem ich stand, im Sommer fünfundvierzig stattgefunden hat. Sie solle doch endlich damit aufhören! hat der lange, schlaksige Sohn sich eingemischt, aber die Frau sah nicht ein, warum sie nicht davon reden sollte: Hier, genau hier, war ihr Vater damals von Russen abgeholt worden. In einem Militärauto, Karsten! Und ihr Vater habe noch ihrem kleinen Bruder über den Kopf gestrichen, und er habe gesagt: Heul man nicht, ich bin bald wieder da, das ist doch ein Mißverständnis. Wiedergekommen
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