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Der Widerschein

Der Widerschein

Titel: Der Widerschein
Autoren: David Schönherr
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Erstes Kapitel
    D ie Niederlande steckten in einer schweren Krise. Jahrhundertelang hatte jener Landstrich einen Erfolg nach dem anderen errungen, so dass es nur konsequent war, diese legendäre Ära im Nachhinein als Goldenes Zeitalter zu bezeichnen.
    Im Anschluss an diese große Zeit bedauerten die Niederländer verständlicherweise das Ende jener Epoche. Denn das achtzehnte Jahrhundert meinte es mit den Bewohnern jenes flachen Landes nicht gerade gut.
    Wo früher Entdecker und Erfinder die Menschen mit Substanz und Seele bereichert hatten, machten sich nun Angst und Zweifel breit. Während in der Welt bedeutende Kriege um Geist und Materie entbrannten, legte sich über jenes Land eine bedenkliche Trägheit, dicht gefolgt von Armut und Elend. Kein einziger Niederländer machte sich nach jenen goldenen Tagen einen Namen, der nicht von den Vorbildern berühmter Staatsmänner, hervorragender Wissenschaftler und vor allem glorreicher Künstler um Längen überragt wurde.
    Aus den deutschen Landen hörte man seitdem des öfteren die Redensart, die Niederländer würden ihrem Namen nun endlich gerecht werden.
    Die Bewohner des flachen Landes taten nun das, was sie in all den Jahren zuvor offenbar nicht getan hatten: Sie blieben daheim, bestellten das baumlose Land und warteten auf bessere Zeiten. Man arbeitete von früh bis spät, um Schulden und Steuern zu begleichen, ließ sich gern vom Schlaf überwältigen und träumte insgeheim bereits am Montagmorgen vom Samstagabend.
    Man vergaß leider, was an den goldenen Zeiten früher so gut gewesen war.
    Allein der Gedanke, etwas Wichtiges vergessen zu haben, blieb in vielen Köpfen lebendig.
    Seitdem bedauerten die Niederländer vor allem sich selbst.
    * * *
    Bedauern und Sorgen waren das tägliche Brot von Pfarrer Hobrecht – was diesen jedoch in keiner Weise bedrückte, sondern den bedeutsamsten Teil seiner Arbeit ausmachte. Bereitwillig und aufmerksam hörte er sich die Nöte und Ängste seiner Kirchgänger an, sagte ihnen Hilfe und Unterstützung zu und brachte sich bei der Lösung besonders hartnäckiger Probleme regelmäßig um seinen dringend benötigten Schlaf.
    Der Pfarrer, so hieß es, sorgte sich vorbildlich darum, dass kein einziges Schäflein seiner Herde jemals verloren ging.
    Auf Grund dieser allseits bekannten Hilfsbereitschaft erreichten den Pfarrer fast täglich die unterschiedlichsten Gesuche, Bitten und Anfragen, die seine kirchlichen Pflichten mehr und mehr in den Hintergrund drängten.
    Meist ging es bloß um Brot, warme Kleidung für den drohenden Winter oder die Bitte um Almosen; einmal war Hobrecht aber im Laufe eines solchen Gespräches die Leitung der städtischen Schule übertragen worden, und kurz darauf hatte er sich überreden lassen, eine Trauung in einer der umliegenden kleineren Ortschaften zu vollziehen – woraufhin nun auch andere Dörfer und größere Gehöfte von ihm forderten, dass er bei ihnen mindestens aus der Bibel vorlesen sollte.
    Überhaupt kam man vor allem dann zu Hobrecht, wenn der Schuh wirklich drückte, wenn die Frauen unter Migräne litten oder man ein tiefes Loch in den Zähnen entdeckt hatte – Hobrecht war dafür bekannt, für alles einen Ausweg zu finden.
    * * *
    Nach dem Besuch in einer entfernten Gemeinde wurde Hobrecht wie gewohnt von zahllosen Bittstellern umringt. Die Sonne war im Begriff unterzugehen, das Ende des Tages war für den Pfarrer noch lange nicht in Sicht. Man bedrängte ihn von allen Seiten, forderte mit Nachdruck die Herausgabe von Almosen und verlangte nach Brot. Hobrecht drückte allen sein Mitgefühl aus, versprach umgehende Unterstützung und bekam kaum mit – bedingt durch die Fülle der Fragen und das gleichzeitige Nachdenken über mögliche Lösungen –, wie müde und erschöpft er eigentlich war.
    Selbst auf dem spät angetretenen Heimweg wurde Hobrecht um ein Gespräch gebeten – unglücklicherweise von einem landläufig bekannten Taugenichts, der meistens mit ausdrucksloser Miene durch die Gegend lief, gelegentlich aber lautstark das Ende der Menschheit verkündete, um danach angeblich tagelang seinen Rausch auszuschlafen.
    Überraschend deutlich begann jener Mensch zu sprechen: Er benötige den Beistand des Herrn Pfarrer, sofort, sofort! Der Verrückte machte einige hastige Bewegungen um Hobrecht herum, Schrittchen, Sprünge, Tänzeleien – ein wahnwitziges Schauspiel! Ebenso unerwartet blieb der Mann jedoch plötzlich stehen, so dass er vom letzten Licht des Horizonts beschienen
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