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Stigma

Stigma

Titel: Stigma
Autoren: Michael Hübner
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der Mann?«
    Dorn sah Tom unschlüssig an. »Hat man Ihnen das nie gesagt?«
    »Ich … ich weiß es ehrlich gesagt nicht mehr genau.« Tom fuhr sich mit der Hand über die Stirn und rieb sich die müden Augen. »Es gibt so vieles, an das ich mich nicht mehr erinnern kann. Am Anfang meiner Therapie haben die Ärzte es wohl nicht für ratsam gehalten, mich aufzuklären. Vielleicht hat man es mir später einmal gesagt, in der Hoffnung, ich würde mich erinnern. Aber ich habe das alles in den letzten Jahren so sehr verdrängt, dass es vermutlich irgendwann verloren gegangen ist. Ich wollte mich einfach nicht mehr erinnern. Ich wollte nur noch vergessen und nach vorn schauen. Aber Sie sehen ja, wie schwer mir das fällt. Und irgendwann ist dann der Punkt erreicht, wo selbst das nicht mehr möglich ist, weil es mich daran hindert, Dinge zu tun, die für andere Menschen ganz normal sind. Und wenn es mir nicht gelingt, mich endgültig davon zu befreien, dann werde ich wohl niemals ein normales Leben führen können.«
    »Was ist denn mit Ihrem Vater? Wie ich dem Bericht entnehmen konnte, ist er Polizeibeamter und war an Ihrer Befreiung beteiligt. Er hätte Ihnen jederzeit eine Kopie …«
    »Ich habe keinen Kontakt mehr zu meinem Vater«, unterbrach ihn Tom. »Er hat uns kurz danach verlassen. Ich schätze, er ist mit den Dingen, die mir damals passiert sind, nie fertiggeworden. Ebenso wenig wie ich. Muss wohl in der Familie liegen«, stellte er verbittert fest. »Jedenfalls habe ich seitdem nichts mehr von ihm gehört. Und ich will auch gar nichts von ihm hören«, fügte er mit Nachdruck hinzu. »Aber wenn mich meine Vergangenheit schon wieder einholt, dann will ich doch wenigstens wissen, wem ich es zu verdanken habe, dass ich bloß noch ein verängstigtes Wrack bin.«
    Dorn legte die Aktenmappe, die er noch immer in der Hand hielt, aufgeschlagen auf den Tisch. Sie enthielt die Berichte und Notizen zu den beiden Fällen. »Der Name des Mannes war Ralf Homberg. Er war Angestellter eines Sicherheitsunternehmens, bis er wegen Handgreiflichkeiten entlassen wurde. Bis zu diesem Zeitpunkt ist er nie straffällig geworden und hat eigentlich unauffällig mit seiner Familie in dem besagten Haus gelebt. Die Leute, mit denen er Umgang hatte, haben ihn eher als schüchtern und zurückhaltend beschrieben, manche auch als sonderbar. Er war nicht sonderlich beliebt, galt aber als fürsorglicher Familienvater. Etwa sechs Monate vor seinem Tod hat seine Frau die Scheidung eingereicht und ist mit dem zehnjährigen Sohn zu ihrer Mutter gezogen. Vermutlich war das der Auslöser für seine Taten, er hat den Verlust wohl nicht verkraftet.«
    Sie verlassen mich wieder, spukte es Tom durch den Kopf.
    »Etwa drei Monate nach der Trennung hat er dann seine Frau und seinen Sohn als vermisst gemeldet, angeblich weil sie nach einem gemeinsamen Einkaufsbummel nicht in das Haus seiner Schwiegermutter zurückgekehrt waren. Diese Vermisstenanzeige war später einer der Gründe, weshalb die Polizei in sein Haus eingedrungen ist, zu diesem Zeitpunkt ist man bereits davon ausgegangen, dass er selber etwas mit ihrem Verschwinden zu tun hatte. Seine Frau hatte ihn bereits zweimal wegen Belästigung angezeigt. Wie sich dann herausgestellt hat, hatten die Kollegen recht. Bei der einzigen Jungenleiche, die man in dem Keller entdeckte, handelte es sich um seinen Sohn. Die sterblichen Überreste seiner Frau konnten bis heute nicht gefunden werden. Sie gilt noch immer als vermisst.«
    Tom blätterte in den Aufzeichnungen, während er Dorns Ausführungen folgte. Er stieß auf die beiden Bilder der Opfer, die beinahe identisch waren, und sein Magen zog sich schmerzhaft zusammen. »Ein Sicherheitsunternehmen«, ging er laut seinen Gedanken nach. »Deshalb also der Wächter.«
    »Keine Ahnung. Dieser Begriff taucht in keinem Bericht auf, er scheint also nur Ihnen bekannt zu sein.«
    »Er selbst hat sich mir gegenüber so genannt.«
    »Nun, der Verlust seines Arbeitsplatzes und seiner Familie hat ihn wohl den Verstand gekostet. So was kann einen Menschen schon fertigmachen.«
    Der eigene Sohn. Kein Verlust auf dieser Welt könnte Tom zu so etwas treiben. »Eines verstehe ich nicht.« Er sah wieder zu den beiden Beamten auf. »Wenn ich der einzige Überlebende bin, wie kann dann jemand nach all den Jahren eine Botschaft verfassen, die Details enthält, die nur ich wissen kann?«
    »Tja«, sagte Bender, »genau das ist es ja, was wir uns auch nicht erklären können.«
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