Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stigma

Stigma

Titel: Stigma
Autoren: Michael Hübner
Vom Netzwerk:
warmes Blut auf seiner Haut spüren, das sich wie ein Schleier über sein Gesicht legte. Dann vernahm er dieses unmenschliche Lachen.
    »Ich werde dich spüren lassen, was Verlust ist!« Die Stimme klang so klar und deutlich, als stünde der Wächter vor ihm. Er fühlte kräftige Hände, die ihn packten und an ihm zerrten.
    »Willst du mit mir spielen?«
    » NEIN ! OH GOTT !«
    »Tom!« Die Stimme seiner Frau drang zu ihm durch und traf ihn wie eine Ohrfeige. Langsam lösten sich die Bilder auf, zerliefen wie das Blut, dessen Schleier sich verflüchtigte und Tom die Sicht wieder freigab. Nur verschwommen erkannte er drei Gesichter über sich, sah seine Arme, die wild fuchtelten und sich zu befreien versuchten.
    »Nein, lasst mich!«, schrie er in panischer Furcht und sprang auf. Er prallte mit Bender zusammen, der das Gleichgewicht verlor und an den Tisch stieß. Das leere Glas fiel zu Boden und zersprang auf den braunen Keramikfliesen.
    Schluchzend sackte Tom auf die Knie und wischte sich wild mit den Händen übers Gesicht. Dann starrte er sie an, war sich sicher, dass sie voller Blut waren. Doch er fand nichts außer glitzerndem Schweiß auf seinen zitternden Fingern. Sein Puls raste so schnell, dass er befürchtete, sein Herz könnte jeden Moment explodieren. »Oh Gott«, keuchte er wie ein verängstigtes Kind, während er noch immer seine Finger anstarrte. »Er ist wieder da. Es beginnt erneut!«
    »Wir sollten einen Arzt rufen«, meinte Dorn, der Mühe hatte, die Fassung wiederzugewinnen.
    »Ich rufe Dr. Westphal an!« Karin wischte sich die Tränen aus den Augen und stürzte zum Telefon. Bevor sie den Hörer aufnehmen und die ersten Tasten drücken konnte, hielt Tom sie zurück.
    »Warte!«, rief er, während er noch immer keuchend auf dem Boden kniete. »Nicht … Es geht schon wieder.«
    »Reden Sie doch keinen Unsinn, Mann«, widersprach Dorn. »Sie brauchen Hilfe.«
    »Die hätte ich vor dreizehn Jahren gebraucht«, stöhnte Tom außer Atem. »Jetzt brauche ich nur etwas zu trinken.«
    »Ich denke, das könnten wir jetzt alle vertragen«, bemerkte Bender. Er streifte mit beiden Händen sein dunkelblondes Haar nach hinten, das ihm wirr in die Stirn hing. Die Scherben knirschten unter den Sohlen seiner braunen Lederschuhe.
    »Ich hole Besen und Schaufel«, sagte Karin, die noch immer völlig aufgelöst war und mit den Tränen kämpfte. »Bevor sich noch jemand verletzt.«
    »Lass nur«, sagte Tom und stand langsam auf. Seine Glieder schmerzten und waren schwer wie nach einem Marathonlauf. »Ich mach das schon. Geh du bitte zu Mark, und sorg dafür, dass er nicht runterkommt. Ich möchte nicht, dass er das hier sieht.«
    Karin stand da und betrachtete ihren Mann unschlüssig. Seine Augen waren blutunterlaufen, und noch immer spiegelte sich das Entsetzen darin, das er gerade durchlebt hatte.
    »Bitte«, fügte Tom mit Nachdruck hinzu. Er sah, wie sie mit sich kämpfte. »Es ist in Ordnung. Geh, und kümmere dich um Mark.«
    Mit einem dumpfen Scheppern kippte Tom die Glasscherben in den Abfallbehälter und verstaute das Kehrblech wieder in dem Schrank unter der Spüle. Der Anblick von Scherben löste in ihm stets ein beklemmendes Gefühl aus, das er ebenso wenig zu erklären wusste wie seine Angst vor fleischigen, behaarten Händen. Er schenkte sich ein weiteres Glas Wasser ein und spülte hastig eine Tablette damit herunter. Noch immer fiel es ihm schwer, das Zittern seiner Finger unter Kontrolle zu bekommen, doch es gelang ihm, es vor den beiden Beamten zu verbergen, indem er die Hände in den Taschen seiner Jeans vergrub. »Kann ich Ihnen auch etwas anbieten? Einen Kaffee vielleicht? Oder etwas Stärkeres?«
    »Nein, danke«, lehnte Dorn ab, der sich dafür einen missmutigen Blick seines Kollegen einfing. Die beiden waren Tom in die Küche gefolgt, in der es noch immer nach dem Essen roch, das mittlerweile auf den Tellern kalt geworden war. »Und Sie sind wirklich wieder in Ordnung?«
    »Ja«, entgegnete Tom. »Ich fühle mich nur noch etwas aufgedreht. So ähnlich wie nach einem Stromschlag.«
    »Dann erzählen Sie uns doch mal, was genau da eben mit Ihnen passiert ist. Ich kann natürlich nicht für meinen Kollegen sprechen, aber ich habe so etwas noch nie erlebt.«
    »Tja«, sagte Tom, »dem kann ich mich nur anschließen. Das Ganze ist auch für mich eine neue Erfahrung.«
    Er senkte seinen Blick und starrte verlegen auf seine Füße, die nervös auf und ab wippten. Und einen kurzen Moment lang kam es
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher