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Süden und das Lächeln des Windes

Süden und das Lächeln des Windes

Titel: Süden und das Lächeln des Windes
Autoren: Friedrich Ani
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    D er Junge rannte auf den Wald zu, als wäre der Rottweiler des Bauern Erpmaier hinter ihm her, nach dem er, so schnell er auch lief, wie in vorauseilender Panik Ausschau hielt: Seine Blicke flitzten über den Hof, zu jedem Tor, zu jeder Tür, von einem Gebäude des Anwesens zum nächsten, vom Hühner und Schweinestall zum Kuhstall, vom Geräteschuppen zum Silo, vom Wohnhaus zum Anbau mit den Ferienwohnungen. Und jedes Mal, wenn der Junge den Kopf drehte, schlugen ihm Haarspitzen in die Augen, denn seine Mütze war verrutscht, und er hörte die Worte seiner Mutter wieder – »Morgen gehst du zum Sinner, und wehe nicht!« –, und dann verscheuchte in der Dunkelheit des frühen Winterabends ein böses Bellen seine Gedanken. Er durfte nicht stehen bleiben. Er musste schneller rennen, an der Holzgarage für die Traktoren vorbei zum Waldweg, hügelan. Auf einer Wurzel, die sich aus der Erde schlängelte, rutschte er aus, ruderte mit den Armen, fand wieder Halt in der feuchten Luft und versuchte dabei den Kopf gesenkt zu halten und den glitschigen Stellen auszuweichen. Doch die Finsternis kam ihm auf einmal so dicht und unheimlich vor, dass er glaubte, von ihr geblendet zu werden.
    Das Bellen hörte nicht auf. Aus der Tiefe des schwarzen Nichts, das ihn umgab, rollte es auf ihn zu, und er wusste, wenn er auch nur eine Sekunde innehielt, würde Rocko ihn packen und zerfetzen.
    Kein Hund in Taging bellte wie der Rottweiler von Erpmaier Ludwig senior, es war das Bellen eines alten blutrünstigen, verfetteten Köters, den nicht nur die Kinder im Dorf fürchteten. Mindestens fünfmal hatte er in den vergangenen Jahren Spaziergänger angefallen, die das blumengeschmückte, bemalte, gutshofartige Anwesen betrachten wollten und dabei zu nah an seine Hütte herangetreten waren. Zwei Frauen hatte er lebensgefährlich verletzt, und die Erklärung, warum er daraufhin nicht eingeschläfert worden war, vermuteten die Leute in der Tatsache, dass Erpmaier senior den Opfern, die beide aus Taging stammten, hohe Entschädigungssummen gezahlt hatte, angeblich mehr als hunderttausend Mark. Der Vater des alten Erpmaier war Bürgermeister gewesen, sein Sohn hatte sich zu einem wohlhabenden Großbauern entwickelt, dessen Bruder ebenfalls Bürgermeister und dessen Sohn zumindest Bürgermeisterkandidat geworden war. Für Erpmaier senior war Rocko eine Art heilige Kuh, das bekam jedes Kind im Dorf spätestens mit dem Eintritt in den Kindergarten eingebläut, und dazu die Warnung, das Tier unter keinen Umständen zu reizen oder mit ihm zu spielen, ganz gleich, wie zutraulich es gelegentlich wirken mochte.
    Für den Jungen, der in jener Dezembernacht durch den Wald den Gibbonhügel hinauflief und laut keuchte, gehörte Rocko zum festen Inventar seiner Albträume, dabei hatte der Hund ihm bisher nichts getan, er bekam ihn überhaupt selten zu Gesicht, obwohl seine Eltern vor einem Jahr in ein Haus gezogen waren, das nur dreihundert Meter vom Erpmaierhof entfernt lag. Sein Herz schlug, als wolle es seinen Körper sprengen, unter der rotblauen Pudelmütze sammelten sich Schweißschlieren, und am liebsten hätte er den Reißverschluss seines Anoraks aufgezogen und sich die Mütze vom Kopf gerissen.
    Aber er musste weiter, schneller und noch weiter nach oben, auf dem matschigen Weg, den er vom Sommer her kannte. Er wusste genau, wo der Weg endete, auf einer Lichtung, von der aus man bis zu den ersten Häusern des Dorfes sehen konnte, was er gewiss nicht tun würde.
    Denn er wollte nie wieder dorthin zurück. Nie wieder. Erst als er die Lichtung fast erreicht hatte – jedenfalls bildete er sich das in der undurchdringlichen Dunkelheit ein –, bemerkte er die Stille.
    Alles, was er hörte, war sein eigenes Keuchen und, wenn er dies mit zusammengepressten Lippen unterdrückte, ein leises Tropfen, weit entfernt, und ein Rascheln wie von besonders feinen Blättern. Kein gespenstisches Bellen mehr, kein heiserer Fluch eines verfluchten Hundes.
    Erschöpft und gleichermaßen aufgewühlt lehnte der Junge an einem Baum, atmete mit offenem Mund und zitterte vor Aufregung. Er hatte es geschafft. Er dachte: Ich habs geschafft. Und dann, nur einen Moment später, nach einem kurzen Horchen und einem schnellen Blick, der nicht weiter reichte als bis zu einem umgestürzten Stamm, dessen mächtiges Wurzelwerk schwarz aufragte, dachte er: Und jetzt? Schlagartig fühlte er sich nicht mehr wie befreit, sondern in höchstem Maß befangen und ratlos. Er krallte die
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