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Süden und das Lächeln des Windes

Süden und das Lächeln des Windes

Titel: Süden und das Lächeln des Windes
Autoren: Friedrich Ani
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Finger in die morsche Rinde, alle zehn, und presste den Rücken gegen den nassen Baum, als wolle er eine Tür aufstemmen und dahinter verschwinden. Es war, als würde sein Übermut, der ihn vorangetrieben und in einen Zustand von Unfurcht versetzt hatte, sodass er noch vor einer Minute, wenn es hätte sein müssen, mit Rocko den Kampf aufgenommen hätte, im lehmigen Laubboden versickern und einen Feigling zurücklassen, der schlotternd vor Angst zu weinen begann.
    Er merkte nicht, wie ihm die Tränen über die erhitzten Wangen liefen. Sein ganzer Körper, von den Füßen bis zu den Schultern, zitterte, und er versuchte still zu stehen, er ballte die Hände zu Fäusten und presste die Lippen wieder, so fest er konnte, aufeinander, er drückte die Schuhe in die Erde, weil er hoffte, seine Knie würden dann zur Ruhe kommen. Stattdessen zitterten sie noch mehr und er dachte: Vielleicht bin ich in ein Stromnest getreten, und der Strom kriecht in mich rein wie eine Million elektrischer Ameisen, und mein Herz wird explodieren, und ich werd sterben, allein im Wald, und Rocko wird mich riechen und finden und fressen.
    Vor Angst vergaß er Luft zu holen. Dann riss er den Mund auf und keuchte wie vorhin, als er den steilen Hang hinaufgerannt war. Jetzt hatte er einen salzigen Geschmack im Mund und er wusste sofort, woher. Hastig wischte er sich mit beiden Händen über die Augen, übers Gesicht, seine Hände waren schmutzig, und er stand bis zu den Knöcheln in schmierigem Laub, die Jeans klebten an seinen Waden und seine Kopfhaut juckte unter der Mütze, aber er traute sich nicht zu kratzen. Er traute sich nicht einmal die Hand zu heben oder wenigstens einen Schuh aus dem Dreck zu ziehen, er traute sich nicht den Kopf zu drehen, weder auf die eine noch auf die andere Seite, er traute sich nicht zu atmen. In Sekundenabständen sog er die Luft durch die Nase ein, als dürfe er nicht das geringste Geräusch verursachen, als sei genau dies der Trick um aufzuwachen, endlich aufzuwachen.
    Doch ich wachte nicht auf. Ich wachte nicht auf, weil ich nicht schlief. Ich war wirklich im Wald, ich war wirklich von zu Hause weggelaufen, in der Nacht zum sechsten Dezember. Die Dunkelheit hüllte mich in einen Mantel aus Angst, und ich weinte ohne Unterlass. Ich war zehn Jahre alt und warum ich ausgerissen war, konnte ich auch Jahre später nie überzeugend erklären. Erst heute, wenn ich an jenen Vermisstenfall zurückdenke, der uns im Dezernat 11 mehrere Tage lang beschäftigt hatte – wieder war es Dezember gewesen und wieder war es um ein Kind gegangen, sogar um zwei Kinder –, scheint mir, ich könne das Kind, das ich damals war, allmählich begreifen, in seinem Handeln, in seiner Besessenheit, in seiner Furcht, die nichts mit dem Wald und seiner schwarzen Gegenwart zu tun hatte.
    Erst heute, nachdem ich aus dem Polizeidienst ausgeschieden bin und versuche, wozu auch immer, meine Erinnerungen zu sortieren, bilde ich mir ein, eine Verbindung zu erkennen zwischen den Vermissungen von Sara und Timo, die wir zu klären hatten, und mir, Tabor Süden als Jungen, und ich bin ein wenig erleichtert über die unerwartete Annäherung an mein vergangenes Ich, wenngleich ich mit der Person, der mein Verhalten damals den größten Schmerz zugefügt hatte, dieses bescheidene Glück nicht mehr teilen kann.
    In jener Nacht jedoch, der Nikolausnacht, dachte ich ausschließlich an meinen eigenen Schmerz, ich dachte mit aller Macht an ihn, ich konzentrierte mich auf nichts anderes. Und so gelang es mir der Dunkelheit und den Geräuschen der Stille zum Trotz den Baum, an den ich mich klammerte, zu verlassen und meinen Weg in nördlicher Richtung fortzusetzen, langsam, einen Schritt nach dem anderen, über die grasbewachsene, unebene Lichtung, parallel zum Waldrand, in dem fahrigen Licht eines Mondes, den die Wolken in dem Augenblick freigaben, als ich mich umsah, um mich zu versichern, dass mir tatsächlich niemand folgte.
    Nur die Stimme meiner Mutter ging mir nicht aus dem Kopf, die ganze Nacht, den ganzen Weg über. Bis zum ersten Schrei einer Krähe im dämmernden Morgen hörte ich meine Mutter aus ihrem Schlafzimmer rufen: »Morgen gehst du zum Sinner, und wehe nicht!«

2
    » H err Süden?«
    »Ja.«
    »Kann ich Sie sprechen?«
    »Nur zu.«
    »Unter vier Augen, es ist sehr wichtig.«
    »Ist jemand verschwunden?«
    Die Frau antwortete nicht. Ich wartete ab. Meine Kollegin Sonja Feyerabend, mit der ich das Büro teilte, hatte einen dicken Wollschal um
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