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Toten-Welt (German Edition)

Toten-Welt (German Edition)

Titel: Toten-Welt (German Edition)
Autoren: Manfred Köhler
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Kapitel 1: Wiederbelebung eines Scheusals
     
    Der Anblick des Mannes im Rollstuhl versetzte Amelie einen so starken Anflug von Ekel, dass sie ein Gefühl von Brechreiz unterdrücken musste. Wie eine verdorrte Bananenschale krümmte sich der Körper des menschlichen Wracks auf dem fahrbaren Polstersitz. Der kahle Schädel hing schief auf dem dürren Hals, und das röchelnde Atmen hinter der Sauerstoffmaske war das einzige, was darauf hindeutete, einem Menschen und keiner Mumie gegenüberzustehen.
    „Frau Korski? Oder Fräulein Korski?“
    „Amelie“, antwortete sie spontan und kam einen Schritt näher.
    Der Mann lächelte und zerrte ungeschickt an der Sauerstoffmaske. Amelies Mitleid überwand den Ekel. Mit zwei weiteren Schritten war sie bei ihm und nahm ihm die kleine, aber für ihn so mühselige Handbewegung ab.
    „Danke sehr. Sie wissen, worauf es ankommt.“
    Es klang wie eine Feststellung, was Amelie alarmierte. Als Krankenschwester war sie nicht gekommen, und daher beließ sie es nicht bei einem Ja, und statt eines Neins zählte sie auf:
    „Sie möchten Ihre Lebensgeschichte erzählen, und ich soll sie aufschreiben. Es soll schnell gehen, weil Sie nicht wissen, wie viel Zeit Ihnen noch bleibt. Sie brauchen aber keine Sekretärin, die nur tippt, sondern eine Schriftstellerin, die das Erzählte dramatisiert.“
    Das Häuflein Sehnen und Knochen im Rollstuhl räusperte sich. Es klang missbilligend.
    „Nun, Fräulein Amelie...“
    „Einfach nur Amelie, bitte.“
    „Amelie, was sagt denn Ihre Familie, wenn Sie für möglicherweise viele Wochen verschwinden und praktisch unerreichbar sind?“
    „Das ist schon in Ordnung.“
    „Tatsächlich?“
    „Ja. Ich meine, da ist nicht wirklich jemand, den das stören könnte.“
    „Nicht wirklich, was heißt das?“
    „Das heißt, es ist mir etwas unangenehm zugeben, dass es überhaupt niemanden gibt.“
    „Überhaupt niemanden, der Ihnen nahe steht? Wie ist denn das möglich?“
    „Ach, wissen Sie... es geht hier um Ihre Geschichte, nicht um meine.“
    „Verstehe. Und Sie könnten sofort anfangen?“
    Amelie clipte ihre Handtasche auf, zog einen Notizblock mit Stift hervor, machte ein Gesicht wie bereit zum Diktat und erwiderte schließlich sein kleines Lächeln.
    „Fein. Ich möchte, dass Sie die nächste Bewerberin hereinschicken, aber noch einmal Platz nehmen. Sie werden innerhalb der nächsten Stunde aufgerufen, um meine Entscheidung zu erfahren.“
     
    „Und?“, fragte die letzte Bewerberin im Warteraum, als Amelie die vorletzte wie befohlen zu dem Mann im Rollstuhl geschickt hatte.
    „Ich will Sie nicht beeinflussen“, antwortete Amelie, strich ihren Rock glatt und setzte sich neben sie.
    „So schlimm?“
    „Ich würde so schnell ich kann davonlaufen, wenn ich den Job nicht unbedingt haben müsste.“
    Die Frau neben ihr nickte.
    „Alle haben so ausgesehen, als sie da wieder rausgekommen sind. Ich will am liebsten gar nicht rein. Allein der komische Geruch da drin...“
    „Vielleicht ist er als Chef ganz anders als er aussieht. Und riecht.“
    „Der erste Eindruck stimmt leider meistens.“
    „Am schlimmsten ist dieses Gruselschloss! Stellen Sie sich vor, man müsste hier auf Dauer leben.“
    „Leben bestimmt nicht. Aber wie ist es mit dem Büro? Ist das hier? Oder irgendwo in der Stadt? Muss man nur zu den Interviews hierher kommen?“
    „Hat er nicht gesagt. Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht.“
    „Ich frage ihn, wenn ich dran bin. Aus welchem Beruf kommen Sie eigentlich?“
    „Ich bin Redakteurin“, sagte Amelie zögernd. „Und Sie?“
    „Chefsekretärin. Die Frau, die jetzt gerade drin ist, hat schon drei Bücher geschrieben. Ich würde sagen, die hat die besten Chancen von uns allen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich sie beneide.“
    „Hat sie auch veröffentlicht? Oder nur geschrieben?“
    „Weiß ich nicht. Geschrieben ist ja auch schon was.“
    „Wenn das nicht klappt, was machen Sie dann?“, wollte Amelie wissen.
    „Das, was ich immer mache: weiter suchen, weiter bewerben, weiter zu Vorstellungsgesprächen anreisen, wenn ich das Glück habe, dazu eingeladen zu werden, und weiter hoffen.“
    „Wie lange machen Sie das schon?“
    „Fast zwei Jahre.“
    Amelie seufzte.
    „Ich weiß nicht, ob ich das könnte. Ich habe immer gleich wieder was gefunden. Bis auf diesmal.“
    „Ich früher auch. Aber die Zeiten sind wohl vorbei, schätze ich.“
    Amelie hatte eine Idee, die ihr zu ihrem eigenen Nachteil erschien,
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