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Stigma

Stigma

Titel: Stigma
Autoren: Michael Hübner
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hindern will, das Ganze immer wieder zu durchleben. Ich frage mich nur, was auf Dauer schlimmer ist? Sich an etwas so Schreckliches zu erinnern und es so zu verarbeiten oder ständig vor etwas Angst haben zu müssen, das man sich nicht erklären kann und das einen letztendlich am Leben hindert? Ich für meinen Teil ziehe Ersteres vor, auch wenn es vielleicht gewisse Risiken birgt. Die bin ich gerne bereit einzugehen, denn ich bin es nämlich langsam leid, davonzulaufen und mich zu verkriechen. Und ich möchte meinem Sohn auch nicht irgendwann einmal erklären müssen, dass sein Vater nicht mit ihm zum Fußball gehen kann, weil er sich nicht unter Menschen traut. Aber ich kann meine Ängste nur bekämpfen, wenn ich mich ihnen stelle, Herr Kommissar. Und wenn das, was Sie mir sagen wollen, schon nicht Ihnen helfen kann, dann hilft es vielleicht doch mir, mich an die Dinge von damals zu erinnern und diese Blockade zu durchbrechen.«
    In den nächsten Sekunden sagte niemand etwas. Dorn schien Tom mit allen Sinnen zu fixieren, als wolle er ihn durchleuchten, um zu sehen, wie weit es für ihn vertretbar war, mit der Wahrheit herauszurücken. Schließlich schwenkte sein Blick zu Karin hinüber, in der Hoffnung auf so etwas wie eine Bestätigung.
    »Bitte, Herr Kommissar«, flehte Tom. »Es ist schon schlimm genug, ständig diesen Ängsten ausgesetzt zu sein. Aber noch viel schlimmer ist es, wenn man nicht weiß, wovor man eigentlich solche Angst hat. Vielleicht muss ich das einfach alles noch einmal durchleben, damit ich damit abschließen kann.«
    Wieder ein langes Zögern. »Also gut«, gab der Kommissar schließlich nach, und die beiden Männer setzten sich wieder. »Aber auf Ihre Verantwortung.«
    Er nickte seinem Kollegen zu, der daraufhin in die Innentasche seines Jacketts griff und ein gefaltetes Blatt Papier zutage förderte.
    »Das hier ist die Abschrift einer Nachricht, die wir bei der Leiche gefunden haben«, erklärte Bender. »Sie steckte in der Mundhöhle des Mädchens, als hätte der Täter Ihnen durch sie diese Worte mitteilen wollen.«
    Zögernd nahm Tom das Papier entgegen; seine Augen suchten unsicher nach Karin, die erneut seine Hand ergriff. Sie hatte Tränen in den Augen, nickte ihm jedoch aufmunternd zu. Mit zitternden Händen faltete er das Blatt auseinander und las die gedruckten Zeilen:
    Es beginnt erneut. Sie verlassen mich wieder. Und Du weißt, wie sehr ich es hasse, verlassen zu werden. Deinetwegen haben sie mir meine Schätze genommen, über die ich so fürsorglich gewacht habe. Ich habe es nicht vergessen, im Gegensatz zu Dir. Deshalb habe ich beschlossen, dass es an der Zeit ist, Dein Gedächtnis etwas aufzufrischen. Das Spiel ist noch nicht vorbei, Tom Kessler, egal, was sie Dir in all den Jahren eingetrichtert haben. Es beginnt erneut. Und diesmal werde ich vollenden, was ich an Dir begonnen habe. Ich werde Dich aus Deiner Dunkelheit befreien und dafür sorgen, dass Du Dich wieder daran erinnerst, wer der Wächter ist!
    Tom fuhr zusammen. Eine Panikwelle flutete durch ihn hindurch wie Wasser durch einen geborstenen Schiffsrumpf. Die Wände des Wohnzimmers schienen zu schwanken, und das Sonnenlicht in den Fenstern und der Terrassentür wurde immer heller, bis es so grell war, dass es ihn blendete. Bilder tauchten plötzlich vor seinen Augen auf, zuckten wie grelle Blitze durch seine Wahrnehmung, als hätten sie nur darauf gewartet, eine Lücke in seinem Unterbewusstsein zu finden, um daraus zu entfliehen. Bruchstücke seiner Vergangenheit hasteten an ihm vorbei, so greifbar und nah, dass sie ihm beinahe real erschienen. Er sah eine breite Werkbank vor den nackten Mauersteinen einer Kellerwand. Er sah unzählige Gerätschaften, die an der Wand befestigt waren und zum Teil Spuren von getrocknetem Blut aufwiesen. Sägen, Schraubzwingen, Metallbohrer. Eine Kühltruhe, über deren Rand ein kleiner Fuß herausragte. Die Luft war feucht und stickig und mit einem entsetzlichen Geruch nach Verwesung getränkt. Und er hörte diese unnatürlich hohe Stimme, die ihn an Kreide erinnerte, die über eine Tafel quietschte.
    »Willst du mit mir spielen?«
    » NEIN !«, schrie er, jetzt völlig außer sich. Die Angst war unerträglich. Sie schien physische Ausmaße anzunehmen, lastete auf ihm wie ein tonnenschwerer Granitblock.
    »Niemand widersetzt sich dem Wächter«, hallte es bedrohlich durch seinen Kopf. »Hörst du, NIEMAND !«
    Ein entsetzlicher, brennender Schmerz durchzuckte Toms Bein. Er konnte
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