Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stigma

Stigma

Titel: Stigma
Autoren: Michael Hübner
Vom Netzwerk:
ihm fast so vor, als sei er immer noch dreizehn Jahre alt und müsste sich vor seinen Eltern für einen peinlichen Schulstreich rechtfertigen. Auch nach all den Jahren psychologischer Behandlung tat er sich noch immer sehr schwer damit, seine Seele vor anderen zu entblößen. Noch dazu vor zwei wildfremden Menschen, die gerade mit angesehen hatten, wie er völlig die Fassung verloren hatte.
    »Was da eben passiert ist«, begann er leise, »ist auch für mich schwer zu erklären, und Erklären gehört normalerweise zu meinem Beruf. Es war nicht nur einer der üblichen Anfälle, von denen ich nicht immer genau sagen kann, was sie auslöst. Das hier war wesentlich intensiver. Eine emotionale Flutwelle, könnte man sagen, die mich in die Vergangenheit gespült hat. Als hätte sich eine Schleuse in einem mir unbekannten Teil meines Gehirns geöffnet, die normalerweise fest geschlossen ist.«
    Dorn sah ihn mit ausdrucksloser Miene an. »Dann war das also eine Art Rohrbruch, den wir da erlebt haben?«
    Tom lächelte. »Wohl eher eine undichte Stelle, würde ich sagen.« Sein Lächeln wurde breiter. Das dürfte der Umschreibung nicht ganz dicht eine völlig neue Bedeutung geben, fügte er in Gedanken hinzu.
    »Was genau haben Sie denn gesehen?«
    »Nur winzige Teile. Aber es waren nicht nur visuelle Eindrücke. Da waren auch dieser entsetzliche Gestank und diese …« Er fing an, nervös auf seiner Unterlippe zu kauen. »Ich war wieder in dem Keller. Mit ihm. Ich konnte ihn nicht sehen, aber ich habe seine Stimme gehört.«
    »Was hat er gesagt?«
    »Er hat mich gefragt, ob ich mit ihm spielen will. Ich glaube, ich muss Ihnen nicht erklären, was er damit gemeint hat.«
    »Nein.« Der Kommissar räusperte sich. »Wie gesagt, wir sind mit den Fakten vertraut.«
    »Dann wissen Sie ja sicher auch von der Leiche in der Kühltruhe. Ich konnte sie sehen. Ihr … ihr Fuß hing über den Rand hinaus. Er war ganz blau und … aufgedunsen.« Tom atmete tief durch. »Sie sagten, der Leichnam des Mädchens, den Sie gefunden haben, wäre ebenfalls gekühlt worden. Sehen Sie da auch einen Zusammenhang?«
    »Schon möglich. Dem damaligen Täter ging es in erster Linie darum, die Verwesung aufzuhalten. Vielleicht wurde die Leiche des Mädchens in diesem Fall nur gekühlt, um sie über einen gewissen Zeitraum hinweg exakt in dem Zustand der damaligen zu erhalten, bis sie gefunden werden sollte.«
    »Sie denken also, der Täter wurde gar nicht überrascht, sondern wollte, dass die Tote so entdeckt wird.«
    »Davon gehen wir aus. Weshalb sollte er sich sonst solche Mühe mit den Details geben?«
    »Wer hat die Leiche gefunden?«
    »Ein paar spielende Kinder.«
    Eine weitere Parallele. Und noch ein paar Kinderseelen, die vernichtet wurden.
    »Dort ist zwar der Zutritt verboten«, erklärte Bender, »aber das Gebäude dient Kindern und Jugendlichen oft als Treffpunkt. Ist wohl so eine Art Abenteuerspielplatz für sie.«
    »Das Haus steht schon seit Jahren leer, nicht wahr?«, fragte Tom.
    »Das stimmt«, bestätigte Dorn und blätterte in den Papieren, die er in der Hand hielt. »Genaueres können wir leider nicht sagen, da es seltsamerweise keinerlei Unterlagen darüber gibt. Selbst die zuständige Behörde konnte uns das nicht erklären; sie vermuten einen Computerfehler. Merkwürdig ist nur, dass auch kein notarieller Eintrag zu finden ist. Offiziell existiert dieses Gebäude also nicht, deshalb fühlt sich auch niemand dafür zuständig, und es gibt gerichtliche Streitigkeiten wegen der Entsorgungskosten. Allerdings wurde uns mitgeteilt, dass es früher wohl so etwas wie ein Depot gewesen ist. Wie auch immer, die Stadt würde das Objekt jedenfalls am liebsten dem Erdboden gleichmachen, weil es von vielen Anwohnern als Schandfleck bezeichnet wird und außerdem einsturzgefährdet ist. Das Grundstück ist zwar weitläufig eingezäunt, und überall stehen Verbotsschilder, aber das scheint die Kids nicht abzuhalten.«
    Zäune, dachte Tom, und ihm wurde speiübel. »Dieser Mann, der mich damals … dieser Wächter … Man hat mir gesagt, er habe sich das Leben genommen.«
    »Das stimmt. Er wurde mit durchgeschnittener Kehle gefunden, nachdem die Kollegen die Kellertür aufgebrochen hatten. Das Messer hielt er noch in der Hand.«
    Das Blut, das viele Blut. Es war seins. »Mein Gott«, keuchte Tom. »Wie krank muss jemand sein, um so etwas zu tun?«
    »Ich denke, seine Taten sprechen da für sich«, bemerkte der Kommissar trocken.
    »Wer war
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher