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Stigma

Stigma

Titel: Stigma
Autoren: Michael Hübner
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Kessler.« Aus Michael Dorns Stimme war jede Kompromissbereitschaft gewichen. Nur noch die energische Autorität eines Kriminalpolizisten lag darin. »Gerade Sie sollten das nachvollziehen können.«
    Tom blickte auf das Foto des Opfers, das wie ein infames Lesezeichen in die Innenseite der Aktenmappe gesteckt war. »Sie haben recht«, räumte er ein und schlug wütend den Deckel der Mappe zu. »Warum hat dieser Dreckskerl mir seinen Drohbrief nicht einfach mit der Post geschickt? Dann wäre dieses Mädchen noch am Leben.«
    »Weil er wollte, dass Sie diese Drohung ernst nehmen«, antwortete Dorn. »Und genau das sollten Sie auch tun, denn das hier ist keineswegs die Tat eines Verrückten, der nur auf sich aufmerksam machen will. Der Täter muss sich ausführlich mit Ihrem Fall beschäftigt haben, er kennt Dinge aus Ihrer Vergangenheit, von denen nur Sie wissen können, und die Detailverliebtheit, mit der er das Ganze inszeniert hat, lässt auf eine ziemliche Besessenheit schließen. Sogar den Fundort der Leiche hat er nicht dem Zufall überlassen. Er wusste, dass dort ein beliebter Treffpunkt von Kindern und Jugendlichen ist, wo das, was er uns präsentieren wollte, auch zum richtigen Zeitpunkt gefunden wird. Und er war auch bereit, ein gewisses Risiko einzugehen, dort bei seinen Vorbereitungen beobachtet zu werden. All das erfordert einen abgebrühten Verstand und exakte Vorbereitung. Der Täter verfolgt ein klares Ziel. Und dieses Ziel sind augenscheinlich Sie, Herr Kessler.«
    »Aber warum gerade jetzt, nach all den Jahren?«
    »Das kann viele Gründe haben. Seiner Botschaft nach zu urteilen, wusste er, dass Sie jahrelang therapiert worden sind. Es könnte sein, dass er einfach abwarten wollte, bis Sie für seine Spielchen bereit waren. Schließlich will er ja auch seinen Spaß daran haben. Möglicherweise ist er aber auch erst jetzt in der Lage, seine Pläne umzusetzen. Wie schon erwähnt nimmt die Vorbereitung für eine solche Tat sehr viel Zeit in Anspruch, und Zeit bedeutet bekanntlich auch Geld. Vielleicht musste er sich erst einmal die nötigen finanziellen Freiräume sichern. Denkbar wären auch eine längere Krankheit, geschäftliche Verpflichtungen, möglicherweise sogar ein Gefängnisaufenthalt. Unsere Ermittlungen sind sehr weitläufig. Sie können sich aber sicher vorstellen, wie viel Zeit uns das alles kostet. Deshalb wird bereits die Gründung einer Sonderkommission vorbereitet, die sich ausschließlich mit diesem Fall beschäftigen soll. Sämtliche Spuren und alles Beweismaterial, das wir am Fundort sichergestellt haben, sind schon beim LKA in Mainz und werden dort untersucht. Wir hoffen, mehr über die Kleidung des Mädchens und die Originalbotschaft zu erfahren. Außerdem werden wir die Kinder und Jugendlichen aus der Gegend befragen, ob ihnen auf dem Grundstück irgendetwas aufgefallen ist. Mehr können wir im Augenblick nicht tun.«
    Durch das Küchenfenster hindurch beobachtete Tom Karin und Mark, die ausgelassen im Garten herumtollten. Sie mussten durch die Haustür nach draußen gegangen sein, ohne dass er es gemerkt hatte. Und obwohl er wusste, dass seine Frau voller Sorge um ihn war, wirkte ihr Spiel völlig unbeschwert. Das tut sie Mark zuliebe, dachte Tom, während er ihrem Lachen lauschte, das nicht im Mindesten gezwungen wirkte.
    »Ich veranlasse gleich morgen früh all das, was Sie mir empfohlen haben«, sagte er mit gerade eben genügend Kraft, dass es nicht verzweifelt klang. »Und ich nehme meinen Sohn eine Zeit lang aus dem Kindergarten.«
    Kommissar Dorn nickte zufrieden. Dann trat er neben ihn, und sie sahen gemeinsam zu, wie Mark sich strampelnd aus dem Griff seiner Mutter zu befreien versuchte. »Wie alt ist der Kleine?«, erkundigte er sich.
    »Er wird in zwei Monaten vier.«
    »Dann müssen Sie ja sehr früh geheiratet haben.«
    »Tja, ich schätze, ich hatte es wohl ziemlich eilig damit, erwachsen zu werden, nachdem ich schon keine Jugend hatte.«
    »Ich will bestimmt nicht indiskret sein, aber wie haben Sie und Ihre Frau sich kennengelernt?«
    Tom sah zu dem Beamten auf. Vermutlich wunderte dieser sich darüber, wie jemand, der so gut wie nie das Haus verließ, an eine so bezaubernde Frau geraten konnte. »Sie hat in der Praxis meiner Ärztin gearbeitet. Wahrscheinlich hat sie nicht nur beruflich ein Faible für verkorkste Seelen.«
    Ein Lächeln huschte über Dorns Gesicht. Und diesmal lächelten auch seine Augen. »Sie haben eine tolle Familie, Herr Kessler«, stellte er
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