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Stigma

Stigma

Titel: Stigma
Autoren: Michael Hübner
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Hauses zu betreten. Mittlerweile nehmen Sie sogar Pressetermine wahr, die sehr wichtig für Ihren beruflichen Erfolg sind. Und Sie kommen zweimal im Monat zu mir in die Praxis. Und auch wenn Ihnen das schwerfällt, ist das ein beachtlicher Fortschritt.«
    Tom wollte Dr. Westphal keineswegs einen Dämpfer versetzen, dennoch teilte er ihren Optimismus nicht ganz, was seine Fortschritte betraf. Die »Pressetermine«, wie sie es nannte, absolvierte er größtenteils von zuhause aus. Meist handelte es sich dabei um Anfragen von Zeitungen oder Zeitschriften, die er telefonisch oder am Computer erledigen konnte. Nur vereinzelt gab er persönlich Interviews, die jedoch ausschließlich in seinem Haus stattfanden. Nur einmal hatte er den Fehler gemacht, für einen derartigen Termin seine gewohnte Umgebung zu verlassen. Sein Verlag hatte ihn zum Erscheinungstermin seines zweiten Buches zu einer Autogrammstunde in einer Buchhandlung in Koblenz gedrängt. Mehrere Hundert Menschen waren dort erschienen, um sich ihr frisch erstandenes Exemplar von Dunkle Erinnerung signieren zu lassen. Um das durchzustehen, hatte Tom die übliche Dosis seiner Medikamente deutlich erhöht, was dazu geführt hatte, dass die Veranstaltung beinahe abgebrochen werden musste.
    Dr. Westphal lehnte sich wieder zurück und atmete tief durch. »Doch trotz dieser Fortschritte befürchte ich, dass wir an einem Punkt angelangt sind, wo wir nicht weiterkommen. Jedenfalls nicht mit den üblichen Methoden. Haben Sie vielleicht eine Erklärung dafür, Tom?«
    Unruhig verlagerte er sein Gewicht in dem Sessel. »Sie sind doch die Ärztin. Sagen Sie es mir.«
    »Tja, ich denke, genau darin liegt das Problem, denn Sie sehen in mir nur die Analytikerin und nicht die Bezugsperson.«
    Was sollte denn das nun schon wieder? Wenn er jeden Arzt, der in den letzten dreizehn Jahren an ihm herumgedoktert hatte, als seinen Freund bezeichnen würde, müsste er für seine Geburtstagsfeier wahrscheinlich die Rhein-Mosel-Halle mieten.
    »Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz, worauf Sie hinauswollen.«
    »Nun, Tom, dann werde ich versuchen, es Ihnen zu erklären«, sagte die Analytikerin in ihrem gewohnt neutralen Tonfall. »Wenn Sie Schmerzen haben, gehen Sie zum Arzt, in dem Wissen, dass er Ihnen Medikamente verschreibt, die Ihre Beschwerden lindern. Aber diese Medikamente bekämpfen nur das Symptom der Schmerzen, nicht deren Ursache. Und die kann, medizinisch betrachtet, sehr weitläufig sein. Deshalb ist eine umfassende Diagnose nötig, um sie aufzuspüren und dauerhaft zu beseitigen. Auf Ihren Fall bezogen sind die Ursachen nicht körperlichen, sondern seelischen Ursprungs. Als Ihre Ärztin kann ich Ihnen auch weiterhin Medikamente dagegen verschreiben. Doch damit würden Sie Ihre Symptome nur betäuben. Die Ursache, durch die sie entstehen, wäre immer noch dieselbe. Und um die zu analysieren, ist es nun einmal erforderlich, mir gewisse Einblicke in Ihr Seelenleben zu gewähren, wozu Sie jedoch nicht in der Lage sind. Jedenfalls nicht in dem Maße, dass es uns weiterbringt. Ich denke daher, es wäre sehr nützlich, wenn wir jemanden in Ihre Therapie mit einbeziehen, der mehr Zugang zu Ihnen hat. Eine Person Ihres Vertrauens. Idealerweise jemand, zu dem Sie schon damals einen Bezug hatten und der die Ereignisse aus seiner Sicht schildern kann.«
    »Sie reden von meiner Familie, nicht wahr?«
    »Ich weiß, Sie haben keinen Kontakt mehr zu Ihrem Vater, trotzdem wäre er natürlich meine erste Wahl, weil er damals selbst vor Ort gewesen ist. Er könnte die Situation wohl am besten wiedergeben.«
    »Vergessen Sie’s«, wehrte Tom ab. »Selbst wenn ich es wollte, würde er vermutlich ohnehin nicht hier erscheinen. Aber da ich auch kein Interesse daran habe, ist mir das egal.«
    »Vielleicht tun Sie ihm unrecht, Tom. Versetzen Sie sich mal in seine Lage. Bestimmt macht er sich Vorwürfe, dass er seinen eigenen Sohn nicht besser beschützt hat. Möglicherweise auch, weil er sich nicht schon früher Zugang zu dem Haus verschafft hat, um Sie dort herauszuholen, anstatt sich als Polizist an die offizielle Vorgehensweise zu halten.«
    »Das ist keine Entschuldigung dafür, uns einfach im Stich zu lassen«, entgegnete Tom. »Und das ist das Einzige, was ich ihm vorwerfe! Ich habe ihm nie die Schuld für das gegeben, was mir passiert ist. Aber danach hätte er für uns da sein müssen. Stattdessen hat er es vorgezogen, sich einfach aus dem Staub zu machen. Jetzt will ich seine Hilfe nicht
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