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Angst in der 9a

Titel: Angst in der 9a
Autoren: Stefan Wolf
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1. Gaby wird ungerecht benotet
    Als Tarzan seine Armbanduhr vermisste, war die Pause fast zu Ende.
    »Eben hatte ich sie doch noch«, sagte er zu Klößchen, der neben ihm stand und sich Schokolade in den Mund stopfte, um gestärkt zu sein für die Strapazen der nächsten Stunde.
    »Vor dem Kugelstoßen hast du sie abgenommen und auf die Bank gelegt«, mümmelte Klößchen.
    »Richtig. Total vergessen. Dann liegt sie noch auf dem Sportplatz. Oje, schaffe ich das? Wahrscheinlich nicht. Ist egal. Ich versuch’s.«
    Er ließ seinen Freund stehen und rannte los.
    Im selben Augenblick ertönte das Klingelzeichen.
    Fast 1000 Schüler, die die Internatsschule besuchten, gingen, mehr oder minder eilig, zurück in ihre Klassenräume. Der schnatternde und johlende Lärm in den Höfen und auf den Plätzen zwischen den Gebäuden flaute jetzt mehr und mehr ab.
    Und wenn ich zehnmal zu spät komme bei der Raul, dachte Tarzan. Meine Uhr ist mir das wert. Wie konnte ich sie bloß vergessen!
    Es war ein Geschenk seiner Mutter zum 13. Geburtstag. Normalerweise hütete er die Uhr wie seinen Augapfel.
    Aber während des Sportunterrichts in der vorangegangenen Stunde war es hoch hergegangen. Tarzan, ein hervorragender Judo-Kämpfer und trotz seiner erst dreizehneinhalb Jahre schon in der Volleyball-Schulmannschaft, hatte im Kugelstoßen seinen eigenen Rekord überboten. Und dann noch einen Versuch unternommen – ohne die Uhr am Handgelenk. Dabei hatte er seinen erst zwei Minuten alten Rekord abermals eingestellt und zu der vorigen Weite noch einen Viertelmeter zugelegt. Die Freude darüber hatte ihn von seiner Uhr abgelenkt.
    Der Sportplatz lag hinter der Turnhalle, die Bank etwa500 Meter entfernt. Leider musste er einen Umweg laufen. Denn während des Unterrichts war das so genannte »Pauker-Grün« den Schülern verboten.
    Es handelte sich um eine kleine, dicht bepflanzte Grünanlage. Sie lag hinter dem »Pauker-Silo«, wo die ledigen Lehrer und Erzieher wohnten. Gedacht war dieser Park-Winzling zur Pausenerholung der Lehrer. Aber ulkigerweise machten die davon keinen Gebrauch, sondern aßen ihre Frühstücksbrote im Lehrerzimmer oder auf dem Hof. Deshalb erfreute sich das »Pauker-Grün« zumindest vormittags einer wahren Kirchenstille und Waldeseinsamkeit.
    Tarzan sah seine Uhr.
    Sie lag auf der Bank in der Sommersonne. Das Metallgliederband war so heiß, dass er sich daran fast verbrannte. Er rannte zurück.
    Wäre ja blöd, dachte er, wenn ich nochmal den Umweg mache. Im »Pauker-Grün« ist sowieso niemand.
    Er lief in den Park.
    Asphaltierte Wege wanden sich wie die Mäander (gewundener Lauf von Flüssen) der Weißelster, die in der Nähe der Schule vorbeifloss. Dichte Büsche mit tiefdunklen sommerlichen Blättern verstellten den Blick.
    So kam es, dass Tarzan die Frau um ein Haar umgerannt hätte.
    Sie stand hinter einer schattigen Wegbiegung. Nur zwei Meter blieben ihm, um seinen Spurt abzubremsen. Er schaffte es, konnte aber nicht verhindern, dass er sie mit instinktiv hochgerissenen Händen berührte.
    »Oh, Verzeihung!«, meinte er erschrocken.
    Erst jetzt sah er, wer es war: Die Studienassessorin Müller-Borrello, von den meisten Schülern freundlich die »Mübo« genannt – natürlich nur in ihrer Abwesenheit.
     
    Sie war etwa 30 Jahre alt, mittelgroß und zartgliedrig, hatte vergißmeinnichtblaue Augen und viele blonde Locken. Den Mund pflegte sie sich sehr rot zu schminken. Verehrer hatte sie nicht nur unter ihren Kollegen, sondern auch unter den älteren Schülern. Allerdings beschränkte sich das auf unaufdringliche, bewundernde Blicke. Denn die Mübo war verheiratet und hatte einen kleinen Jungen von sieben oder acht Jahren.
    Verdattert sah Tarzan ihr ins Gesicht.
    Die Frau weinte.
    Ihr Gesicht war ganz nass. Die Augen hatten sich gerötet.
    Um das Schluchzen zu unterdrücken, presste sie sich ein weißes Taschentuch gegen den Mund.
    »Ent... schuldigung«, sagte Tarzan nochmals. »Ich... hatte Sie nicht gesehen.«
    Als schäme sie sich, senkte sie den Kopf.
    Tarzan, der für sein Alter sehr groß war, blickte auf sie hinunter und wusste nicht, was er tun sollte.
    »Ist was, Frau Müller-Borrello? Kann ich Ihnen helfen?« Sie schüttelte den Kopf und wandte sich zur Seite. »Schon gut, Tarzan. Schon gut!« Es klang, als hätte sie fürchterlichen Schnupfen. »Hast du jetzt Unterricht?« »Ja.
    »Dann beeil dich.«
    Er zögerte, dachte dann aber, dass sich ihr Gram durch seine Anwesenheit bestimmt nicht mindere,
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