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Sternenseide-Zyklus 3 - Sternenseide

Titel: Sternenseide-Zyklus 3 - Sternenseide
Autoren: Sydney J. Van Scyoc
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Nachdrücklichkeit der Angst. Denn welche Garantien hatte sie dafür, daß es so sein würde?
Gepflegt und frei wie ich.
    Es tut mir leid; daß du noch immer wegen deiner Schwester betrübt bist, während ihr die Unzulänglichkeiten ihres zerstörten Ge-
    dächtnisses völlig unbewußt sind,
murmelte die Seide sanft.
Aber wir lieben unsere Freiheit ebenfalls, Jägerin Tsuuka. Hörst du, wie
    froh jetzt meine Stimme klingt, da du mich nach meinem geliebten
    Licht hinausreichen läßt? Befreie meine Schwestern, und wir alle werden für dich singen. Du bist müde. Die Barrieren deines Geistes
    haben angefangen, sich aufzulösen. Wir werden Lieder singen, um sie wieder aufzurichten, um die Bilder zu vertreiben, die uns verbinden und dich in den Abgrund des Alps schleudern.
    Tsuuka sank auf ihr Lager zurück; ihre Krallen glitten zurück. Ihr bepelzter Körper war langgestreckt, geschmeidig
    und von tödlicher Anmut, ihr Kopf war edel geformt, und die
    Augen darin glühten wie gelbe Juwelen. In ihnen spiegelten sich all die strahlenden Farben der Singseiden, die straff an
    das Flechtwerk ihres Nestes gespannt waren. Sie fuhr sich mit einer pelzbewachsenen Hand über die Augen und fand sich damit ab, daß es keine andere Möglichkeit gab. Sie mußte entweder die Singträume zulassen oder sich dem Abgrund des nächtlichen Alps stellen.
    Widerwillig traf sie ihre Wahl; es war die gleiche Wahl, die sie immer traf. Sie erhob sich und löste die Singseiden; zuerst
    die scharlachrote und die bernsteinfarbene, dann die fliederfarbene und sonnengelbe; schließlich das chartreusefarbene, weinrote und smaragdgrüne Gewebe. Ihre Stimmen erklangen seufzend durch das Nest; eines raunte dem anderen zu.
    Singt!
befahl sie und ließ sich auf die Stummseiden fallen. Sie schloß die Augen und atmete tief.
    Eine Weile gab es nur das seichte Geplapper des befreiten Gewebes; wortlos und unartikuliert. Dann erhob sich eine neue Brise, ließ den in Mondlicht gebadeten Regenbogen erschauern, und die fliederfarbene Seide gab einen sanften Triller von sich. Der Ton steigerte sich freudig, wurde zunächst von dem gelben, dann von dem bernsteinfarbenen Tuch aufgenommen. Das chartreusefarbene fiel mit klingender Stimme ein; und schließlich stimmten die dunkleren Seiden die scharlachrote, weinrote und smaragdgrüne – ebenfalls ein.
    Ihr Klang war weich, süß, ihre Harmonie rein. Aber Tsuuka fuhr die Krallen aus und trieb sich die scharfen Spitzen ins Fleisch, in der Absicht, einen Rest Wachheit beizubehalten.
    Kaliir war heute ruhelos gewesen, und ihre Augen hatten zu hell geleuchtet. Es konnte gut sein, daß sie heute nacht aufwachen würde. Und der Zeitpunkt war nahe, da Dariim und Falett ihre eigenen Bäume wählen und ihr erstes Nest würden bauen müssen. Sie konnte die unübersehbaren Anzeichen der Reife in dem neuen, harten Schimmer ihrer Felle beobachten, und darin, wie sich ihre Glieder streckten. Zuweilen warf sich Dariim auf ihrem Lager hin und her, wenn sie in einem kurzen Kindertraum gefangen war, einem schwachen Abbild der wirbelnden Strudel der Nacht, die erwachsene Sithis mit sich rissen. Wenn Tsuuka ihren Jungen nicht antworten konnte ...
    Aber es war schon zu spät. Die sich steigernden Stimmen hatten von ihr Besitz ergriffen. Taubheit hatte sich – von der Basis des Schädels ausgehend – entlang der Nervenbahnen über die Schultern und den Rücken hinab ausgebreitet und bereits die Läufe erreicht. Als die Lähmung ihre Vorderläufe ergriff, zogen sich die Krallen unwillkürlich zurück, und ihre Pfoten sanken plump hinab. Wimmernd rollte sie auf den Rücken. Eine ihrer seidig schimmernden, handartigen Pfoten blieb gekrümmt. Die andere war ausgestreckt. Ihr Atem kam in flachen Japsern. Ihre starren gelben Augen blieben offen.
    Die Lieder, die ihr die wehenden Tücher sangen, waren wie versprochen: sie handelten von Waldwiesen und hohen Bäumen, von heißer Sonne am Tag und kühlenden Brisen bei Nacht, vom fernen Lärmen spielender Jungen und den näheren Geräuschen, die bei ihrer Arbeit kichernde Spinner machten. Die Lieder handelten von allem, was Tsuuka bewegte. Es gab keine Andeutung eines Mißklangs, kein Abweichen von der Harmonie.
    Dennoch war sich Tsuuka beim Gesang der Stoffe eines einzelnen, hohen Tones bewußt, der sich durch den ganzen Chor hindurch hielt. Er war kaum wahrnehmbar, aber trotzdem durchdringend, hartnäckig und unausweichlich. Sie versuchte, ihren Kopf zu wenden, um die Quelle des Tones ausfindig zu
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