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Sternenseide-Zyklus 3 - Sternenseide

Titel: Sternenseide-Zyklus 3 - Sternenseide
Autoren: Sydney J. Van Scyoc
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was ihr das Gewebe so dringend mitzuteilen wünschte.
    Es gab so vieles, was sie nicht verstand; zum Beispiel, was an jenem so lange zurückliegenden Tag mit Maiilin im dichtesten Teil des Waldes geschehen war. Tsuuka knurrte leise vor sich hin und wünschte sich, die Erinnerung daran würde sie nicht so beharrlich plagen. Aber trotz der Jahre, die seitdem vergangen waren, war sie niemals fähig gewesen, die Ereignisse jenes Tages zu vergessen.
    Der Tag war warm gewesen; die Luft hatte ihre Felle gestreichelt, und etwas im leichten Wind hatte sie herausgefordert; etwas, das ihnen deutlich machte, daß sie bald keine Jungen mehr sein würden. Maiilin hatte an jenem Tag zu den Weiden gehen wollen, um im Unterholz zu jagen, wie es ihre entferntesten Vorfahren getan hatten. Sie hatte den Wunsch gehabt, ins tiefe Gras zu laufen; sie hatte das Verlangen gehabt, die vereinzelt stehenden, verwachsenen Bäume zu erklimmen; sie hatte den Wunsch gehabt, leichtsinnige Dinge zu tun, als der Wein des Frühlings in ihren Adern brauste.
    Tsuuka, die immer die vorsichtigere unter den Geschwistern gewesen war, hatte ein Dutzend Gründe vorgebracht, die gegen diese Unternehmungen sprachen. Im Weideland gab es Flügler, und sie hatte keine Lust, sich stechen zu lassen. Es gab nicht viel Wild. Welche Markierungen würde es im hohen Gras geben? Wie sollten sie ihren Weg zurück finden, wenn sie sich zu weit vorwagten? Und was wäre, wenn sie den wenigen Sithis begegnen würden, die dort noch lebten? Würden sie gastfreundlich sein? Vielleicht trügen sie Krankheiten an sich. Sie hatte gehört, daß sie kränklich und schlecht ernährt wären ... und zu unwissend, um zu erkennen, daß es ihnen besser gehen würde, wenn sie ihre Wohnungen im Wald anstatt dort im Grasland aufschlügen.
    Schließlich hatte sie sich durchgesetzt. Sie 'hatte Maiilin überredet, nicht zu den Weiden zu gehen. Aber sie hatte die ruhelose Stimmung Maiilins nicht beschwichtigt. Sie hatte sich von Maiilin so lange bestürmen lassen, bis sie sich mit ihr in den finstersten Teil des Waldes wagte, wo die Bäume so dicht standen, daß die Sonnenstrahlen kaum je den Boden erreichten. Dort waren die Baumstämme nicht weiß und hatten eine trockene Rinde, sondern sie waren vor Feuchtigkeit dunkel und moosbewachsen.
    Maiilin war schon oft allein hier gewesen – das behauptete sie jedenfalls –, obwohl ihre Mutter sie davor gewarnt hatte. Hatte Tsuuka Angst, es nur einmal zu tun? War Tsuuka immer noch ein säugendes Junges, das an der Mutter hing und sich davor fürchtete, die geheimnisvollen Dinge zu erblicken, die Maiilin gesehen hatte? Hatte Tsuuka Angst, in die ältesten Bäume zu klettern? Angst, die geheimen Orte tief im Inneren ihrer ausgehöhlten Stämme zu schauen, an denen es Dinge gab, die sich Tsuuka nicht einmal vorstellen konnte ... merkwürdige Wesen mit blinden Augen und unausgeformten Gliedern?
    Tsuuka glaubte nicht alles, was Maiilin sagte. Sie glaubte nicht, daß Maiilin alles getan und gesehen hatte, wovon sie erzählte. Sicherlich aber hatte sie kein Verlangen danach, diese Dinge selbst zu tun oder zu erblicken. Halbgeformte, wuchernde Dinge ... sie schauderte; die Warnung ihrer Mutter war klar in ihrer Erinnerung. Und obwohl sie schließlich nachgab und mit Maiilin ging, glaubte sie, die Ermahnungen ihrer Mutter bei jedem Schritt deutlicher zu hören.
    »Wenn ihr euch auf die Suche nach euren eigenen Bäumen macht, ihr Jungen, dürft ihr nicht dem Herzen des Waldes nahe kommen. Auch spielen sollt ihr dort nicht. Hört mir zu. Es gibt Dinge, die kein Sithi sehen darf, und das ist, wo sie leben.«
    Dinge, die kein Sithi sehen durfte? Selbst damals, bevor sie alt genug gewesen war, um das Stumm-Reden der Seiden zu
    verstehen, hatte Tsuuka begriffen, daß die Spinner und die
    Singseiden Gedanken mit etwas austauschten, das man die Ungesehene nannte. Daß die Ungesehene die Handlungs-
    weisen der Spinner tatsächlich bestimmten; und daß sie fest-
    legte, welche Seiden geschaffen werden sollten, und wann. War es das, was kein Sithi jemals sehen durfte ... die Ungesehene? Und wenn es so war, war es dann ... ein blindes, wachsendes Ding? Weshalb versteckte sie sich im Herzen des Waldes, und weshalb durfte kein Sithi sie sehen?
    Eines stand fest: Wenn es etwas gab, das sie nicht sehen sollte, wollte sie es auch nicht sehen. Deshalb blieb Tsuuka
    zurück, als sie sich der Stelle näherten, wo die Bäume am
    höchsten wuchsen, und hoffte, Maiilin bekäme Angst
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