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Sternenseide-Zyklus 3 - Sternenseide

Titel: Sternenseide-Zyklus 3 - Sternenseide
Autoren: Sydney J. Van Scyoc
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machen. Aber die Lähmung war vollständig. Sie vermochte weder den Blick ihrer starrenden Augen einzurichten, noch das offenstehende Maul zu schließen.
    Kam der Ton von der azurblauen Seide? Oder von der gelben? Vielleicht kam er von mehr als einer Seide. Er hielt an, durchdringend, unangenehm und erschreckend in seinem raschen Anschwellen. Bald wurde er zu mehr als einem Geräusch. Er wurde zu etwas, das sie beinahe berühren konnte, das in ihre Zehenspitzen einfloß und entlang der Nervenbahnen wie Feuer brannte und ihren Körper in Zuckungen fallen ließ. Sie stieß ein hilfloses Wimmern aus, zuckte mit Armen und Beinen, als ein plötzlicher Ausbruch von Alptraumbildern in ihrem Kopf aufblitzte; als die Inhalte Hunderter von peinigenden Träumen in einem einzigen Augenblick in ihrem Bewußtsein explodierten.
    Bevor sie sich entfalten konnten, bevor sie sie brutal überschwemmen konnten, wechselte der durchdringende Ton aus dem Bereich des Hörbaren in den des Sichtbaren über. Ein dünner Strang intensiven gelben Lichts wand sich mitten durch die explodierenden Nachtalpbilder und erleuchtete sie strahlend hell. Dann erglühte der Strang in sichtbarer Energie und wurde so blendend hell, daß alles Umgebende in seinem Glanz unterging. Mit lautlosem Schrei trat Tsuuka ihr Bewußtsein an den Singtraum ab.
    Sie schlief lange danach. Als sie erwachte, lag sie ungraziös über ihre Lagerseiden ausgestreckt, und ihr Fell war verschwitzt. Ihre Läufe waren kraftlos. Aber der durchdringende Ton war verklungen, und gleichermaßen waren die
    Anspannung und Erschöpfung der letzten Tage verschwunden. Und die zudringlichen Nachtmahre waren ebenfalls fort, gebannt hinter den erneuerten Barrikaden ihres Geistes. Als sie sich aufrecht setzte, schmeichelte ihr der Gesang der Seiden, der lyrische, wortlose, sehnsuchtsvolle und süße, wie es immer gewesen war.
    Wie es immer gewesen war; und dennoch ...
    Aber sie mochte jetzt nicht an Ausreden und unbeantwortete Fragen denken, oder an halberblickte Wirklichkeiten, die sie niemals vollständig zu schauen vermochte.
    Behutsam und sorgfältig putzte sich Tsuuka im schwindenden Mondlicht. Sie fuhr sich mit der roten Zunge durchs klamme Fell, ohne etwas anderes als die Stimmen des Regenbogens wahrzunehmen. Tiefer Friede überkam sie, als sie die letzte unordentliche Strähne ihres Fells glättete und anlegte.
    Da begann der Mond zu sinken, und die Stimmen der Stoffbahnen fielen zu einem wispernden Chor ab.
    Du bist Tsuuka,
hauchte die azurne Seide, als die übrigen in Schweigen verfallen waren.
    Ich bin Tsuuka, das stimmt.
    Der Mond geht unter, und unsere Stimmen ersterben, meine Tsuuka. Hast du in unserem Gesang alles gefunden, was wir versprachen? Hat er die Nachtmahre aus deinem Geist verbannt?
    Es war alles da,
erwiderte Tsuuka.
Ich werde euch wieder losbinden beim nächsten Mond. Ich werde wieder zuhören. Wie immer.
    Wir werden wieder singen,
antwortete das Gewebe.
Du bist Tsuuka.
    Ihre Stimmen waren verklungen. Tsuuka erhob sich von ihrer Schlafseide, machte einen Rundgang durch das kreisförmige Nest und zurrte die Seiden dicht an die geflochtenen Zweige. Als sie festgebunden waren, schob sie die fliederfarbene und die gelbe Seide zur Seite, um zu beobachten, wie der Mond hinter den Bäumen unterging.
    Als seine letzten Strahlen erloschen waren, schritt Tsuuka das Nest ab. Ihre Sinne waren ungewöhnlich klar, und ihre Muskeln spielten locker unter dem frisch geglätteten Fell. Sie war auf den Tag vorbereitet, der vor ihr lag, ein Tag der Jagd, des Spieles; ein Tag, an dem sie sich auf der Lichtung sonnen würde, wenn ihr Bauch voll und der Nachwuchs gefüttert war. Aber der Tag hatte noch nicht angefangen. Es war zu früh, den Baum zu verlassen. Und in ihrem Kopf waren Fragen, mit denen sie sich nicht auseinandersetzen mochte.
    Sie sah sich gründlich im Nest um, ob noch etwas zu tun sei, und ihr Blick fiel auf das eine Tuch, das sie nicht gelöst hatte. Eine weiße Seide, stumm an die Nestpfosten gespannt; sie schimmerte selbst jetzt sanft, obwohl das Mondlicht vergangen war, Tsuuka dachte nie an die Sternenseide, wenn die übrigen sangen. Sie konnte ihre Stimme nicht harmonisch mit denen der anderen verschmelzen lassen. Tsuuka brauchte sie nur loszubinden – und die übrigen verfielen in verstimmtes Schweigen und weigerten sich, ihren Gesang fortzusetzen.
    Merkwürdigerweise benötigte dieses Gewebe kein Mondlicht, um singen zu können. Das Licht eines einzigen Sterns reichte
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