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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen
Autoren: Franz Werfel
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Deutlichkeit und Intensität, was ich in jener Minute verstand. Ich verstand, daß wir aus der Wärme fort in die Kälte gehen und doch zu gleicher Zeit aus der Kälte in die Wärme und ebenso aus dem Licht in die Finsternis wie gleichzeitig aus der Finsternis ins Licht. In dieser unbegreiflichen Doppelbewegung bewegt sich die Geschichte des Menschen und die Geschichte der Menschheit. Die Gerade der Zeit beugt sich in jeder ihrer Sekunden vor dem Schöpfer in anbetender Krümmung. Und so sind wir geborgen, weil die Entfernung nichts anderes ist als eine Form der Annäherung.
    Der Großbischof hatte das Stundenglas auf den Tisch gestellt. Ich bemerkte kaum, daß er meine Hand ergriff und daß wir nun über die mühsame Asketentreppe, die ich schon kannte, langsam emporstiegen.
    Der neue Tag war noch nicht da, aber es konnten nur noch ein paar Minuten fehlen, und dann würde die Sonne aufgehen. Der Himmel war lichtgetränkt, doch man sah noch den blassen Morgenstern und zwei andere Planeten. Oh, wie ich sie kannte, diese Sterne in dem kleinen gemütlichen Universum, welches das unsrige ist. Und jetzt tauchten wir in die kühle Frühluft. Und jetzt standen meine Füße zum letztenmal auf dem eisengrauen Rasen der astromentalen Menschheitsepoche. Das Nächste, was ich sah, war die ziemlich ferngerückte, dichtgedrängte Menge, die in weitem Kreis den leeren Platz umgab; Astromentale und Dschungelleute kunterbunt vermischt. Ich erkannte es an den roten Zipfelmützen, die wie blutige Flecke aus dem Schleiergewoge hervorbrannten. Aber konnte ich meinen Ohren trauen? Das war ja ein zögerndes Singen, ein kindlich einstimmiges Chorsingen, ein einfältiger Choral von allen Seiten. Die Dschungelleute gaben den hochnäsigen Kulturmenschen, die über das innere Singen das äußere Singen verlernt hatten, die erste Gesangstunde. Gut so! Jeder Verlust ist ein Gewinn. Es klang sehr dünn und schülerhaft. Es klang wie nach einer Krankheit. Und da gewahrte ich den Toten. Er lag auf einem schmalen einfachen Katafalk.
    Sein Kopf war sehr hoch gelagert. Seinen zierlichen Leib hatte man mit einem Schleier zugedeckt. Zu seinen Füßen war der zusammengebrochene Lehrer eingeschlummert. Zu seinen Häupten wachten einige der ältesten Fremdfühler, darunter der Unerschütterliche, der das Isochronion um die Stirn gebunden trug. Ich erkannte es, weil die Kapsel spiegelartig im Zwielicht leuchtete. Die Eltern waren fort. Zweifellos hatten sie längst den Wintergarten aufgesucht.
    Ich sah fragend den Großbischof an, der stehengeblieben war, eine viel schwerere und mächtigere Figur, als ich gedacht hatte. Er schlug ein rhythmisch großes Kreuz über meinen Kopf; dann winkte er mir, zu gehen. Ich wußte, daß ich nichts anderes zu tun hatte, als zu gehen. Zwischen mir und dem Toten lagen ungefähr dreißig Schritte. Während ich die ersten Schritte machte, war ich unsicher und fürchtete, durch einen Fehltritt oder falschen Gedanken alles zu verpatzen. Ich mußte zum Beispiel folgendes denken, ohne zu wissen, ob ich es denken durfte: Er hat das Isochronion aus der Tiefe geholt, weil er selbst das Isochronion ist, die Gleichzeitigkeit der Welt. Ängstlich blieb ich stehen. Aber niemand sagte: »Falsch! Noch einmal!«
    Hingegen verstand ich plötzlich die Bedeutung des Geflüsters und warum man meine Adresse erfragt hatte und daß Io-Knirps beauftragt war, mich an der Ecke von Bedford Drive und April 1943 abzusetzen oder abzuwerfen, denn um sich dem Ende zu nähern, mußte er zum Anfang zurückfliegen in unserm kleinen gemütlichen Universum. Und irgendwo im ersten Viertel oder bestenfalls Drittel, von Anfang gerechnet, lag der Bedford Drive.
    Interessant, interessant, sprach ich zu mir selbst, während ich schneller und sicherer ausschritt, umschleiert vom kindlich zaghaften Choral untrainierter Stimmen. Schon sah ich deutlich das Gesicht des Toten. Es war aber nicht ein Gesicht, sondern zwei Gesichter. Verfluchter Astigmatismus! Wo ist meine Brille? Ich tastete alle Taschen meines Fracks nach der Brille ab, obwohl ich wußte, daß man sie mir fortgenommen hatte. Es waren aber wirklich zwei Knabengesichter übereinander. Ein graues totes oben und ein blühend lächelndes darunter, etwa so, wie bei Abziehbildern ein graues Häutchen die Farbenpracht darunter zudeckt. Das graue Gesicht wurde immer undeutlicher, das blühende immer deutlicher, je näher ich kam. Nur keine Extravaganzen, Junge, oder mit Gott, alle Extravaganzen, die du willst, so
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