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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen
Autoren: Franz Werfel
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haltend, zu blättern begann. Es sah so aus, als blätterte er in einem Fahrplan. Alle Menschen, die in einem Fahrplan blättern, machen sorgenvolle Mienen. Ich habe niemals in einem Fahrplan geblättert, da ich ein Deserteur alles Sorgenvollen bin. Ich habe stets mit kalter Interesselosigkeit andere für mich im Fahrplan blättern lassen, ich, ein ungezogenes Kind der Eisenbahn. So auch jetzt. Ich näherte den Krug meinem Glase. Da aber … ich war ertappt. Denn der Großbischof drehte sich um:
    »Was ist Ihre genaue Adresse, mein Sohn?« fragte er und ließ sich nichts anmerken.
    »Nummer  610 North Bedford Drive«, erwiderte ich stramm, indem ich über und über rot wurde.
    »Und befindet sich in der Nähe dieser Adresse eine Kirche, ein Kirchlein, eine Kapelle? Das wäre hilfreich nicht nur als Wahrzeichen«, erkundigte sich der Großbischof und sah mich nicht an, vielleicht um mir Gelegenheit zu geben, mich ungeniert zu bedienen.
    »Aber natürlich«, rief ich krampfhaft dienstfertig, »eine hübsche mexikanische Kirche ›Zum guten Hirten‹. Gegenüber von ihr liegt ein prächtiger Kakteengarten.«
    Der Großbischof wandte mir nachdrücklich wieder den Rücken zu. Ich schenkte mir vom Weine ein, wenn auch nur ein halbes Glas. Undeutlich vernahm ich währenddessen:
    »… ein Genie der Orientation …«
    »… Absetzen Ecke North Bedford Drive und April 1943 .«
    Während ich aber mit größtem Genuß auf einen Zug den Wein leerte, machte ich mir keine Gedanken über diese abgerissenen Gesprächsfetzen. Zudem war durch eine andere Tür ein dienender Bruder in die Bibliothek getreten, hatte sich tief vor den beiden Hochwürdigen verbeugt, ein großes Stundenglas auf den Tisch gestellt und dabei gemurmelt:
    »Es ist vollbracht.«
    Das halbe Glas Wein war genau um ein halbes Glas zu viel. Der Kopf drehte sich mir. Ein unsäglicher Seelenschmerz stieg in die Kehle. Ich verstand, was vollbracht war und wer es vollbracht hatte. Zugleich aber begann ein Ausspruch des Großbischofs, den er bei unserer ersten Begegnung getan hatte, quälend in meinem Gehirn zu rotieren. Es geschieht zuweilen in tiefer Nacht in einem Wellental zwischen Schlaf und Schlaf, daß irgendein Wort, irgendeine Handlung, die wir am Tage ohne Kritik hingenommen haben, sich plötzlich als Lüge oder als Untreue grell entschleiert und unsere leidende Seele ganz überwuchert. Ähnlich ging es mir jetzt mit jenem Ausspruch des Großbischofs. Ich litt aber nicht um meinetwillen, sondern um des Knaben willen, um des Toten willen, der soeben dort oben das Seine vollbracht hatte. Nein, ich konnte nicht schweigen, so spät es auch war und so fröhlich der Raum sich um mich auch drehte. Der Großbischof hatte den Engelforscher mit seinem Fahrplan entlassen und trat zum Tisch, ohne sich niederzusetzen, wodurch auch ich gezwungen war, mich zu erheben.
    »Ich habe das Wichtigste noch auf dem Herzen«, stammelte ich.
    Der Erzpriester nahm das Stundenglas vom Tisch und betrachtete es. Der größte Teil des Sandes war schon durchgelaufen:
    »Sie haben nur noch wenige Minuten, mein Sohn«, mahnte er, »genau soviel, wie zwischen Erstarrung und Befreiung liegt.«
    »Und wenn ich nur noch eine Minute hätte, ich kann nicht anders. Sie haben mir gesagt, daß die Welt jetzt und hier um hunderttausend Jahre böser, sündiger, das heißt von Gott entfernter ist als zu meiner Zeit. Wenn das wahr ist, kann man nicht leben, ich nicht …«
    »Habe ich das wirklich gesagt«, lächelte der Großbischof.
    »Sie haben es gesagt.«
    »Dann hab ich nur eine halbe Wahrheit gesprochen.«
    »Ein Großbischof spricht keine halbe Wahrheit.«
    »Richtig, mein Kind. Aber es kommt vor, daß ein Großbischof manchmal nur die Hälfte der Wahrheit spricht.«
    »Was aber ist die andere Hälfte?«
    Er näherte mir seinen großen weißen Kopf, der eine einzige Freundlichkeit war:
    »Die andere Hälfte der Wahrheit ist sehr einfach, mein Sohn: Wir entfernen uns nicht nur von Gott durch die Zeit, sondern wir nähern uns auch Gott durch die Zeit, indem wir uns vom Anfang aller Dinge weg und dem Ende aller Dinge zu bewegen …«
    Und nun erging es mir ähnlich, wie es mir auf Johannes Evangelist ergangen war, als ich angesichts der neunfachen Sonnengewalt gelernt hatte, daß die Energie eines Gestirns größer sein kann als sie selbst. Das Zimmer drehte sich nicht mehr um mich, und ein geistiges Glück ohnegleichen entzückte mein Bewußtsein. Heute verstehe ich nicht mehr mit derselben
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