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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen
Autoren: Franz Werfel
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Erstes Kapitel
    Worin sich ein Vorwort verbirgt, das, wie so oft, nur eine Ausrede ist.
    Dies hier ist ein Erstes Kapitel, welches verhindern soll, daß vorliegendes Werkchen mit einem Zweiten Kapitel beginne. Dem Entschlusse, auf das Anfangsblatt eines Romans setzen zu lassen: »Zweites Kapitel« stand nichts andres im Wege als der Ordnungssinn des Verlegers, die bekannte Entdeckerlust des lesenden Publikums an faustdicken Druckfehlern und endlich die Originalitätssucht des Verfassers, der befürchtete, irgendein Kollege aus der foppfreudigen Epoche der Romantik habe gewiß schon einmal eines seiner verwilderten Werke mit dem Zweiten Kapitel eröffnet. Fangen wir darum mit dem Ersten Kapitel an, so überflüssig dasselbe für den Gang der Handlung oder, genauer gesagt, Forschung, auch sein mag. Da es sich um eine Art von Reisebericht handelt, fühle ich die Verpflichtung, den Helden, oder bescheidener, den Mittelpunkt der hier geschilderten Begebenheiten vorzustellen. Es ist einmal die Schwäche dieser literarischen Form, daß in ihr das Auge, das sieht, das Ohr, das hört, der Geist, der begreift, die Stimme, die berichtet, das Ich, das in viele Abenteuer verwickelt wird, den Mittelpunkt bilden, um den sich alles im wörtlichen Sinne »dreht«. Dieser Mittelpunkt, der aufrichtigerweise F. W. benannt ist, bin leider ich selbst. Ich hätte es aus angeborener Unlust, in Schwierigkeiten zu geraten, lieber vermieden, auf diesen Blättern ich selbst zu sein, aber es war nicht nur der natürliche, sondern der einzige Weg, und ich konnte leider keinen »Er« finden, der mir zulänglicher Weise die Last des »Ich« abgenommen hätte. So ist also das Ich in dieser Geschichte ebensowenig ein trügerisches, romanhaftes, angenommenes, fiktives Ich wie diese Geschichte selbst eine bloße Ausgeburt spekulierender Einbildungskraft ist. Sie hat sich mir, wie ich gestehn muß, wider Willen begeben. Ohne vorher im geringsten benachrichtigt oder ausgerüstet zu sein, wurde ich, gegen alle sonstige Gepflogenheit, als Forschungsreisender ausgesandt, eines Nachts. Was ich erlebte, habe ich wirklich erlebt. Ich bin gerne bereit, mit jedem philosophisch gewandten Leser eine ehrliche Diskussion über dieses Wörtchen »wirklich« abzuführen, und ich maße mir an, auf jeden Fall recht zu behalten.
    Während ich dies niederschreibe, lebe ich noch immer und schon wieder. Genau in dem Raume zwischen diesem »Noch immer« und »Schon wieder« liegt die Welt meiner Entdeckungsreise oder Forscherfahrt, die ich als Unwissender, ja als widerstrebender Tourist begann, um sie, wie ich hoffe, als scharfer Beobachter mit einigen neuen und sicheren Erkenntnissen im Sack zu beenden. Es wäre zweifellos ein Fehler des Lesers, das Buch schon in diesem Stadium ärgerlich zuzuklappen. »Noch immer« und »Schon wieder«, das sind so die Dunkelheiten und Rätsel eines Ersten Kapitels, welche das Zweite Kapitel bereits zu lösen haben wird.
    Um allen groben Mißverständnissen vorzubeugen: ich bin durchaus kein Meisterträumer. Ich träume nicht lebhafter als andre Leute. Ich pflege am Morgen zumeist meine Träume vergessen zu haben. Oft bleiben freilich, als Strandgut der Nacht, in der grauen Frühe ein paar merkwürdige Bilder und Szenen zurück. Da gibt es zum Beispiel einen Hund, der mit mir in verständigen Worten spricht. Eine leuchtende Braut im Brautschleier, die ich nie gesehn habe, tritt mit ausgebreiteten Armen an mein Bett. Ein Mann mit Vollbart und blauer Schürze, den man den »Arbeiter« nennt, setzt Wasserkünste in Gang, die jedoch nicht aus Wasser, sondern aus absonderlichen Lichtstrahlen bestehen. Oder ich sehe mit unbeschreiblicher Deutlichkeit greise Männer, die anstatt zu sterben immer kleiner werden, immer winziger, und zuletzt als menschenförmige Rübchen in der Erde stecken. Solche Bilder und Szenen sind – wenn das Gedächtnis sie nicht ausstößt – wie eigenwillige Keime, die sich im Geiste während des Tageslebens wachsend weiterentwickeln, willst du oder willst du nicht. Selten, und doch ein paarmal im Leben geschieht es, daß diese selbständigen, vom erfinderischen Willen unabhängigen Gesichte während einer einzigen Nacht oder sogar in mehreren Nächten nacheinander logische Ketten und epische Reihen bilden, und man muß dann schon ein bracher Tropf sein, um nicht angeschauert zu werden von den sinnvollen Spielen, die unsre Seele hinter unserm Rücken aufführt, als wäre sie nicht ein beschränktes Ich, sondern ein
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