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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen
Autoren: Franz Werfel
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brennenden Schmerzen«, schluchzte nun endlich die Mutter auf und warf sich fassungslos auf die Knie.
    »Dann lieber die brennenden Schmerzen, viel lieber …«
    Der Knabe keuchte und sank zurück. Schnell und überaus deutlich hob und senkte sich seine wunde Brust. Alle aber, die diesen Vorgang gesehn und verstanden hatten, wurden von einer erstickenden Erschütterung gepackt, so daß man das Weinen der Frauen, Schneuzen, Husten und schluchzend scharfe Ausrufe hörte über den ganzen Platz.
    »Oremus«, sang der Großbischof unterm Baldachin, langsam dem Sterbenden sich nähernd. Ein Gebetmurmeln der Priester respondierte: »Respice, quaerimus, Domine, famulum tuum parvulum in infirmitate sui corporis …«
    Ich aber bedeckte meine Augen. Auch mir war die Kehle zugeschnürt von einem fast unausdrückbaren Wissen und Empfinden. In der Neuannahme des natürlichen Todes und Schmerzes durch den kleinen Sternentänzer hatte eine neue Zukunft die alte Zukunft abgelöst. Kein Wunder, daß ich wankte. Es war ein bißchen zu viel für einen einzigen Beobachter. Doch schon fühlte ich mich von freundlichen Armen gestützt und geführt …
    Ich saß im Sephirodrom, in der Bibliothek des Großbischofs, in demselben Lehnstuhl wie das letzte Mal. Auf dem niedrigen Tisch lag immer noch der uralte Quartband, betitelt ›Fortalitium Fidei‹, Stärkung im Glauben. Es war selbstverständlich nicht das Original, die Inkunabel, die um so viele hundert Jahre älter war als ich, sondern ein viel späterer Nachdruck, der aber auch schon ein recht hübsches Alter von einigen zwanzigtausend Jahren auf dem Rücken trug. Die Befestigung im Glauben. Vor mir aber schimmerte in einem hohen, schöngeformten Stengelglase der duftende Wein der hierarchischen Pflanzungen, den ich schon kannte. Ich mußte übrigens bereits mehrere Gläser genossen haben, denn trotz der wunden Erschöpfung in meiner Brust fühlte ich zugleich eine wirre und schwimmende Behaglichkeit, die alles milderte. Als ich aufsah, saß der Hochwürdige Großbischof mir gegenüber in seinem hohen, thronartigen Stuhl. Diesmal war er ganz in Zivil, das heißt in ein schwarzes gewöhnliches Habit gekleidet, nicht sehr verschieden von seinen Amtsbrüdern rund hunderttausend Jahre zuvor. Ich nahm mich zusammen und sagte:
    »Es ist sehr gnädig von Euer Lordschaft, mir zu dieser Stunde Audienz zu gewähren und mich zu bewirten …«
    »Aber Sie wünschen ja gar keine Audienz, mein Sohn, sondern etwas ganz anderes«, lächelte der Kirchenfürst schwach über sein weißes großes Gesicht, und seine blauen Augen ruhten auf mir: »Natürlich will ich viel mehr als eine Audienz«, gestand ich. »Man wird sich ja huldvollst erinnern, daß man mir für den Notfall ein Refugium angeboten hat …«
    »Dieses Refugium wurde aber nicht in Anspruch genommen, als der Notfall gegeben war«, lächelte der Großbischof noch immer, aber in seinen Worten schwebte eine leichte Rüge mit.
    »Ich gestehe, daß ich am vergangenen Tage noch zu versponnen und neugierig war. Auch erliege ich sehr leicht interessanten Titelworten. Das Wort ›Wintergarten‹ hat auf mich eine magische Anziehungskraft ausgeübt …«
    »Und jetzt sind Sie nicht mehr versponnen und neugierig?« fragte der Erzpriester, und eine ganz ferne Amüsiertheit durchschimmerte seinen Ernst.
    Etwas zwang mich, meinen Kopf zu senken:
    »Nein, Großbischöfliche Gnaden, ich bin nicht mehr neugierig. Obwohl mich Ihr goldener Wein ein wenig tröstet, bin ich sehr, sehr traurig. Ich habe meinen besten Freund verloren. Und jenes Kind dort oben stirbt oder ist schon tot …«
    »Dann kann Ihnen auch meine Zuflucht nicht mehr genügen, mein Sohn.«
    »Offen gesagt, nein!«
    »Und welches Anliegen haben Sie auf dem Herzen?«
    »War es gestern, Señor Gran Obispo, ist es möglich, daß es nicht früher als gestern war, da Sie zu mir sprachen: »Sie waren niemals tot, mein Herr?«
    »Sie waren auch niemals tot, mein Herr.«
    »Ist das ganz sicher. Hochwürdiger Vater?«
    »Wenn man Ihre ebenso lebendige wie falsche Darstellung des Totseins in Betracht zieht, so ist es ganz sicher.«
    »Bin ich aber nicht tot, so lebe ich. Wie? Oder gibt es noch eine andere Alternative?«
    »Sie leben, ohne Zweifel, Sie leben …«
    »Und wo lebe ich, Euer Lordschaft?«
    »Dasselbe frage ich Sie, mein Sohn. Wo, denken Sie wohl, daß Sie leben?«
    »Ich habe dann und wann während meines Aufenthalts hier über diese Frage ganz jähe blitzhafte Erleuchtungen
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