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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen
Autoren: Franz Werfel
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grenzenloses All.
    Es gibt nur zwei Wege, um ein Historiker der Zukunft zu werden: wissenschaftliche Folgerung und Traumdeuterei oder Wahrsagerei. Die wissenschaftliche Folgerung dürfte sich durch wissenschaftliche Folgerung von der Erkenntnis der Zukunft selbst ausschließen. Die Wissenschaft nämlich muß stets auf der Hut sein, aus sich eine Närrin zu machen. Sie bringt es höchstens zur Wahrscheinlichkeitsrechnung. Traumdeuterei und Weissagung hingegen haben den unschätzbaren Vorteil, auf eine uralte Praxis zurückzublicken, die der unanzweifelbaren Überlieferung gemäß namhafte Erfolge aufzuweisen hat. Die prophetischen Erkenntnisarten müssen es nur verstehen, um echt zu sein, die Schleier des Gleichnisses zu tragen und die Schatten des Geheimnisses zu werfen.
    Strenge Augen sehn mich schon längere Zeit an. Sie werden immer strenger, und jetzt sprechen sie sogar:
    »Sie sind ein Mann in ziemlich reifem Alter. Sie haben wahrhaftig nicht so viel Zeit mehr, um auf unnütze Reisen zu gehn. Wie lange noch wollen Sie Ihren kurzen Arbeitstag vergeuden? Wissen Sie nicht, was heute in dieser Welt geschieht? Waren Sie nicht selbst ein Verfolgter und ein Opfer? Sind Sie’s nicht noch immer? Hören Sie nicht das Brausen der Bomber, das Knattern der schweren Maschinengewehre, das den Erdball einhüllt, ein Nessushemd dieses unseligen Sternchens, aus Explosionen gewoben? Hören Sie nicht, schlimmer als diesen Lärm, das letzte Aufstöhnen der zu Tode Getroffenen, an tausend Orten und zu jeder Stunde? Hören Sie nicht, schlimmer als dieses letzte Aufstöhnen, den Marterschrei und das Verröcheln der Millionen, die zuerst entehrt und dann gefoltert und dann massakriert werden? Ist es nicht Ihre Pflicht und Schuldigkeit, keinen Augenblick wegzusehn und fortzuhören von dieser ungeheuren Wirklichkeit, die das tollste Visionengewimmel eines träumenden Qualdämons an Phantastik ins Nichts zurückwirft und dabei doch schlußgerecht ist wie eine mathematische Ableitung? Welche höhere Aufgabe hätten Sie als diese, den Marterschrei und das Geröchel der Gefolterten festzuhalten und erstarren zu lassen im geprägten Wort, für die kurze Zeitspanne wenigstens, in der Erlebnis und Ausdruck einer Generation der kommenden verständlich bleibt?«
    Ich kann nichts andres tun, oh, ihr gestrengen Augen, als die meinigen vor euch niederzuschlagen. Ich beichte und bekenne: meine Zeit ist kurz, und ich vergeude sie gewissenlos. Nicht vergessen habe ich, daß auch ich ein Verfolgter bin. Nicht so taub bin ich geworden, um nicht zu hören das Brausen der Bomber, das Knattern der schweren Maschinengewehre, das letzte Aufstöhnen der zu Tode Getroffenen, den Marterschrei und das Verröcheln der Entehrten, der Gefolterten, Massakrierten. Die ungeheuerliche Wirklichkeit, dieses Visionengewimmel eines träumenden Qualdämons hält mich gepackt an der Kehle bei Tag und bei Nacht, im Stehen und Gehen, auf der Straße und im Zimmer, während der Arbeit und Erholung. Ja, ja, ich versäume meine Pflicht. Aber dieses ungeheuerliche Geschehn läßt mir nicht einmal Luft genug, um den Marterschrei als Echo nachzuächzen.
    Zu meiner Entlastung habe ich nur anzuführen, was den Leser als eine unvermittelte Banalität erschrecken mag: Schon hatte ich einen mächtigen Stoß schönen glatten Papiers gekauft. Schon hatte ich mich hingesetzt und auf das oberste Blatt des mächtigen Stoßes, der für zwei Bände hinreichen mochte, mit runder sorgfältiger Schrift die Worte gemalt: »Erstes Kapitel«, welches die Geschichte einleiten sollte, die den Entehrten, Gefolterten und Massakrierten einmal geweiht sein wird, wenn es Gott will. Leider aber war die Feder nichts wert. Es ist jetzt so schwer, die richtigen Federn zu bekommen. Selbst die besten Füllfedern sind steif und hart und widerspenstig und zu spitz und wollen nicht recht in Schwung kommen. Das lesende Publikum weiß glücklicherweise nur wenig von der Werkstatt des Schriftstellers. Ein wahrer Schriftsteller, das sollte ein Mann sein, der mit der empfindlichsten, nervigsten Hand schreibt und nicht auf tote Tasten klopft. Ein solcher Mann gerade aber bedarf gewisser begeisternder Schreibutensilien. Eine gute Feder vor allem, weich und geschmeidig, der zartesten, zweifelndsten Haar- und der entschlossensten Schattenstriche fähig, sie wirft das Satzbild aufs Papier wie eine Meisterzeichnung. Eine gute Feder – und dies soll kein Scherz sein – ist schon der halbe Gedanke. Ich ging also aus, um eine
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