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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen
Autoren: Franz Werfel
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gute Feder zu suchen. Ich fand nur eine leidliche. Die Jagd aber nahm mehrere Tage in Anspruch. In der Nacht des letzten dieser Tage aber unterlief mir das, was ich hier die »Aussendung auf eine Forschungsreise« nennen will. Das Material, das ich von dieser Reise in meinem Geiste heimbrachte, war groß, größer als selbst eine umfangreichere Schrift, als diese es zu werden droht, verraten könnte.
    Ich hatte nun meine Wahl zu treffen. Vor mir lag das weiße Blatt, auf dem in großen Lettern gemalt stand: »Erstes Kapitel«, und sonst nichts. Diese befehlshaberischen zwei Worte schienen mit Recht zu fordern, daß ihnen die Geschichte unsrer ungeheuerlichen Wirklichkeit nachrücke in Reih und Glied. Ich aber schauderte zurück: Wird diese ungeheuerliche Wirklichkeit nicht wirklicher werden von Tag zu Tag und am wirklichsten und wahrsten vielleicht dann, wenn sie nicht mehr ist? Die Wirklichkeit meiner Reiseerlebnisse hingegen ist aus einem andern Zeug gesponnen. Sie pflegt meist zu zergehen beim ersten Hahnenschrei oder Hupenruf, und auch das beste Gedächtnis bietet keine Gewähr dafür, daß sie ihm nicht entschlüpfe, plötzlich und auf Nimmerwiedersehn. Eile tut daher not.
    Und so beschloß ich denn, unter jenes »Erste Kapitel«, das noch immer auf die Geschichte unsrer ungeheuerlichen Wirklichkeit wartet, das obige hier einzuschwärzen. Es ist ein abergläubischer Trick. Ich habe mir nichts weggeschrieben. Ich habe meine Aufgabe nicht preisgegeben. Jenes »Erste Kapitel«, das eine Last ohnegleichen tragen soll, steht leer … Denn dieses hier, wiederhole ich zum Schluß unter allgemeiner Zustimmung,
ist
keines. Sondern das Zweite Kapitel übernimmt das Erste Kapitel.

Zweites Kapitel
    Worin ich meinem Freund B. H. begegne, der mich darauf aufmerksam macht, daß ich unsichtbar bin.
    »Wie, bist du nicht tot, B. H.?« fragte ich meinen ältesten und besten Freund und streichelte seine Hand, glücklich, ihn wiederzusehen. Es fiel mir ein Stein vom Herzen bei dieser Begegnung nach so vielen Jahren. Ich hatte B. H. gegenüber ein schlechtes Gewissen. Er war von der großen Flucht vor den Nazis nach Indien verschlagen worden, weit in den Norden, an die tibetanische Grenze, irgendwohin in die Nähe von Darjeeling, wo der Krieg jeder Verbindung zwischen uns ein Ende setzte. Wer weiß, vielleicht hätte ich doch versuchen sollen, ihm noch einmal einen Brief zu schreiben oder mich an das Rote Kreuz zu wenden, um ihm zu helfen. Obwohl ich keinen Beweis dafür hatte, war es für mich ausgemacht, daß er zugrunde gegangen sein mußte … B. H. lächelte, wobei sein großer Kopf mit den schwarzen Haaren und dunklen schönen Augen ein wenig zitterte, ja beinahe wackelte, wie es schon in unsrer gemeinsamen Schulzeit seine Art war, wenn es ihm gelang, eine überlegene Bemerkung zu machen.
    »Ich bin nicht tot«, zwinkerte B. H. »Ich lebe, wie du siehst, aus vollen Lungen. Hingegen bist du tot, F. W., und länger, viel länger, als du dich überhaupt erinnern kannst …«
    »Wieso bin ich tot, B. H.?« fragte ich, von seiner Offenheit verletzt, die mir taktlos erschien, obwohl ich mir doch vorhin denselben Verstoß hatte zuschulden kommen lassen.
    B. H. sah mich lange und ernst an, ehe er sich zur Frage entschloß:
    »Kannst du mich sehen, F. W.?«
    »Natürlich kann ich dich sehen. Wie machst du es, daß du mit Fünfzig noch immer wie mit Fünfundzwanzig ausschaust …? Nein, auch das ist noch übertrieben. Du siehst genau so aus wie am Tag unserer Abiturientenprüfung …«
    »Ich bin nach der augenblicklich gültigen Lebenszeitrechnung Hundertundsieben«, nickte er sachlich, »aber wie steht es mit dir, F. W.? Kannst du zum Beispiel dich selbst sehen?«
    Ich sah an mir herab. Ich konnte mich nicht sehen. Ein kurzer galvanischer Schreck durchzuckte mich. Ich war unsichtbar. Unsichtbar für andere, das ist wohl beklemmend genug. Aber unsichtbar für mich selbst? Ich versuchte, meine aufgescheuchten Gedanken und Empfindungen zusammenzuraffen. Zuerst erkannte ich mit Verwunderung, daß ich mich wohlfühlte, sogar ausnehmend wohl, viel wohler jedenfalls als vorhin (wann, vorhin?), ehe ich – vermutlich aus einem von diesem Orte schon sehr entfernten Tor tretend – auf eine unbekannte Straße geraten war, um plötzlich meinem alten Freunde B. H. zu begegnen. Ich bin nicht sicher übrigens, ob ich von seiner Straße zu reden das Recht habe. Es war gebahnter Boden, zweifellos, der sich gleichmäßig nach allen
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