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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen
Autoren: Franz Werfel
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von den Anfängen der Menschheit so lebendig in dir auf, weil du inzwischen nicht wieder drangekommen bist …«
    »Drangekommen?« schnappte ich ein. »Was soll dieser infantile Ausdruck? Du hast dir ja den Jargon unsrer Schülerjahre recht gut gemerkt. Drankommen? Meinst du damit, vom Lehrer zur Prüfung aufgerufen werden …?«
    »Sehr richtig, F. W.«, nickte er mit einem gewissen Stolz: »Und ich bin gerade dran, das will sagen: ich lebe …«
    Ich beschloß zu schweigen, obwohl es mir recht schwer fiel. Kraft meiner Unsichtbarkeit nämlich, oder besser, meiner durchsichtigen, unantastbaren und schwerelosen Körperlichkeit, kreisten meine Gedanken in heftigen Stromschnellen, und ich verstand und erkannte so manches in neuartig durchdringender Weise. Mein Geist funktionierte im Sinne einer höchst polyphonen Orchesterpartitur. Eine Reihe von Erkenntnissen entwickelte sich wie ein musikalisches Stimmengefüge nebeneinander, untereinander, und bildete doch eine sinnvolle Einheit, deren ich völlig inneward. Also doch, dachte es in mir, B. H.’s Aufenthalt in Tibet hat ihn entscheidend beeinflußt. Er hat sich zweifellos der orthodoxesten Form der Reinkarnationslehre angeschlossen, und mehr als das, der Reinkarnation selbst. Das meint er unter »Drankommen«. Muß ich mich deshalb von B. H. abwenden und ihn Knall und Fall verlassen? Widerspricht die Doktrin und gar die Praxis der Wiedergeburt meinem eigenen Unsterblichkeitsglauben? Nein, entschied ich, ohne zu zögern. Fürs erste ist mein Unsterblichkeitsglaube ja kein Glaube mehr, sondern ein handfest bewiesenes Phänomen. Den schlagenden Beweis bilde ich selbst in meiner gegenwärtig unsichtbaren und doch lebendigen Verfassung … Ich bin, wie mir mein bester Freund ohne höfliche Umschweife auf den Kopf zugesagt hat, längst abgeschieden und wahrscheinlich auf dem Forest Lawn begraben, sofern derselbe nicht schon seit Urväterzeiten aufgelassen und der Ausbeutung von Erdöl übergeben worden ist. Und trotzdem bin ich ganz passabel beisammen und denke und fühle sogar mit erhöhter Lebhaftigkeit. Descartes’ »Cogito, ergo sum« gilt, Gott sei es gedankt, auch für mich nach dem Tode. Welch ein moralischer Triumph über das »Sum, ergo cogito« meiner materialistischen Widersacher, dieses stumpfen Intellektuellenpacks. Was aber die Reinkarnation anbetrifft, war es nicht erst gestern Nachmittag, daß mich eine jähe Erleuchtung überfiel? Der Ort freilich, wo der Blitz dieser geistigen Inspiration in mich einschlug, galt mir nicht als besonders philosophisch: ein Drugstore am Wilshire Boulevard. Ich vergaß, meinen Kaffee auszutrinken. Wie war das nur? Wie ist das nur? … Jedes Ich ist unsterblich, aber nicht jedes Ich ist ein ganzes Ich. Wie in der materiellen Welt, zum Beispiel in der Welt der Rosen, sich ein und dieselbe Blüte von Zeit zu Zeit auf das genaueste wiederholen muß, so auch in der Welt der Menschen, körperlich, seelisch, geistig. Der Formenschatz der Natur ist beschränkt, und nicht anders der Formenschatz der Menschheit. Es gibt nur eine bestimmte Anzahl von Seelen, von ausgesprochenen Egos, die viel kleiner ist als die Anzahl der Namen, die diese Egos im Laufe ihrer Verwandlungen tragen. So ein Ich erscheint wie ein mehr oder weniger erfolgreiches Buch in verschiedenen Auflagen und Ausgaben, doch jedesmal unter verändertem Titel. Wenn Gott am Jüngsten Tage, wie es geschrieben steht, die Seelen zählen wird, so wird er eben nicht dreihundertsiebzig Quinquillionen, sondern nur siebenhunderttausend bis siebzig Milliarden Seelen zählen, je weniger desto besser und würdiger. Jedes Ich wird am Ende der Zeit ein dicker Strauß von Verkörperungen sein, eine Art staubumhüllter Wanderstamm, der durch die Wüste der Äonen zog … Immerhin ist es verwunderlich, daß der B. H. der Gegenwart dem B. H. aus den Anfängen der Menschheit so bis aufs Haar ähnlich sieht. Ich fühlte einen leichten Schwindel mein Bewußtsein bedrängen und unterbrach daher den Strom dieser Gedanken. Lange ließ ich meinen Blick auf B. H. ruhen, ohne zu bedenken, daß dieser Blick ihm nichts sagen konnte. Nun, dachte ich, dunste nur, mein Lieber! Ich rede kein Wort mehr. Das alles macht mich müde.
    B. H. trat näher auf mich zu. In seinem Lächeln war kein Vorwurf:
    »Wir sind eingeladen, F. W.«, sagte er und machte einen Versuch, mich auf die Schulter zu klopfen, die doch für ihn nicht vorhanden sein konnte.
    »Eingeladen?« fragte ich ängstlich. Doch
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