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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen
Autoren: Franz Werfel
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zumeist sind alte, jumperstrickende Damen, pensionierte Generale des Friedensstandes, ausrangierte höhere Staatsbeamte und so weiter. Wer kennt nicht diese leichtgläubige Gesellschaft um ein hopsendes Tischchen?
    »Also so weit habt ihr es gebracht«, fuhr ich unziemend auf, »daß ihr diese Fingerübungen der Ärmsten im Geiste aus den Anfängen der Menschheit repetiert und die Intelligenzen der Toten zitiert? Plato, Napoleon, Jack the Ripper und Madame Pompadour? Wie? Ist das ausdenkbar? Und ich, ich muß es mir gefallen lassen, eine Materialisation zu sein, obwohl selbst das eine Übertreibung ist, denn ich bin ja nicht einmal ein ektoplastisches Phänomen, sondern schlechthin unsichtbar und nur als Bewußtsein vorhanden.«
    B. H. blieb ruhig und ernst:
    »Manches, was dir noch viel unausdenkbarer erschiene, würdest du es kennen, wir haben’s längst verworfen; einiges aber haben wir gerettet und fortentwickelt, was du verachtet hast zu deiner Zeit.«
    »Zu meiner Zeit? War’s nicht auch deine Zeit, B. H.?«
    »Gewiß, F. W., es war unter andern Zeiten auch meine Zeit.«
    Bitter drang es aus mir hervor:
    »Und warum hast du
mich
zitieren lassen, gerade mich?«
    Erst nach einem längern Schweigen fragte er mich zur Antwort:
    »Hast du nicht in den letzten Tagen viel an mich denken müssen, F. W.?«
    »Jedenfalls scheine ich nur durch dich in diese Verlegenheit gekommen zu sein, mich hier zu befinden.«
    »Nein, man hat allgemein deinem Namen zugestimmt«, wehrte er rasch ab.
    Mich aber durchschauerte es eitel bei diesen Worten, vom unsichtbaren Scheitel zur unsichtbaren Sohle. Wie, nach fünfzig-, sechzig-, ja vielleicht hunderttausend Jahren kennt man noch meinen Namen? Berge sind eingeebnet, Meere sind ausgetrocknet, die Gravitation der Sonne scheint abgeschwächt, vermutlich ist ihr die Erde ferner gerückt, wie diese grellen, aber matten Strahlen beweisen, unter denen selbst ein Gespenst wie ich friert. Vielleicht sind auch die Tage länger geworden und mit ihnen das menschliche Leben. Trotz dieser Verwandlung jedoch über alle Maße und Begriffe, kennt man noch meinen Namen, den Namen eines Menschen, dessen ganzes verdienstloses Verdienst es ist, zwischen endlosen Perioden von Dumpfheit und Faulheit in ein paar kurzen aufgeputschten Stunden eine Anzahl von nackten Seiten Papiers mit Worten angefüllt zu haben, gereimten und ungereimten. B. H. erriet natürlich meine überheblichen Gedanken ohne Verzug.
    »Nein, nein, mein Lieber, das ist es nicht«, lachte er, beinahe boshaft. »Für solcherlei hat man fast gar kein Verständnis mehr. Ich habe deinen Namen einfach aus dem Alphabet gestochen, ›durch Zufall‹, würde man damals gesagt haben, in den dunklen Anfängen der Menschheit. Dein Name gefiel allen Hausgenossen recht wohl, und sie meinten einhellig, F. W. soll unser Hochzeitsgast sein, und er soll einen Blick tun aus seiner primitiven Zeit in unsere fortgeschrittene Zeit. Und wir wollen uns durch ihn von der körnigen Kraft jenes urtümlichen Weltalters anwehen lassen, von dem wir nur so wenig wissen … Das ist alles! Und deshalb hat man dich zitiert.«
    »So, so, da bin ich nun plötzlich ein Hochzeitsgast und eine Art Darwin’scher Affe«, murmelte ich vor mich hin, während ich blitzschnell meine außergewöhnliche Lage überschlug. Ich bin gestorben vor mindestens sechzig- bis hunderttausend Jahren oder noch mehr, jedenfalls vor einem geradezu astronomischen Zeitraum. Das Interregnum zwischen meinem Tod und dem jetzigen Augenblick habe ich nicht ganz bewußtlos zugebracht. Das abgelebte Leben in mir wirkte so stark nach, daß die schier unendliche Pause mir nicht länger und wichtiger erscheint als eine kurze Nacht. In dieser kurzen Nacht freilich scheint mich einiges betroffen zu haben, das sich noch nicht ganz zum Lichte durchgerungen hat. Währenddessen aber hat mein Freund B. H., von tibetanischen Mönchen trainiert, eine oder mehrere Wiedergeburten durchmessen, der fixe Kerl. Und jetzt gerade nimmt er neuerdings teil an einer fortgeschrittenen Epoche der Menschheit, wo man mit hundertsieben Jahren einem Studenten von 1910 gleicht. Er ist es, der mich dank dem technisch hochentwickelten Spiritismus dieser Läufte hat ins Leben zitieren lassen, wenn auch nicht ins richtige Leben (noch war ich von meinem Reiseerlebnis nicht weit genug fortgerissen, um nicht zu zweifeln, ob dies das richtige Leben sei). Was tut’s? Ich sollte weniger empfindlich und cholerisch sein. Mein
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