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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen
Autoren: Franz Werfel
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Gnade, die mich absondert.
    Unser Vater, unser König!
    Und trotzdem bin ich ihr Arzt, und mein Sohn müht sich für ihre
    Gerechtigkeit von Abraham bis auf diesen Tag.
    Denn ewig währt Deine Gnade, die mich absondert.
    Unser Vater, unser König!
    Du wirst ihre Unruhe enden und ihnen Frieden geben, am Tage aller
Tage. Und dann, als Letzten nimm auch mich in Deinen Frieden auf,
    Denn ewig währt Deine Gnade, die mich absondert.
    Diese und andere Worte eines uralten Gebetsanges trafen wie aus weiter Ferne wellenweise mein Ohr, da unser Zug ins Freie gelangte und den kleinen Hausgarten durchquerte, in dem die wächserne Flora der fortgeschrittenen Zeit anämisch lauschte und die Riesenmotten und Falter über unsern Köpfen gaukelten. Die Nacht war noch immer sehr dicht. Das bläuliche Geisterlicht der Sterne aber war noch dichter. Und alle Sterne schienen himmelweit mit atemlosem Fleiß an einem Spinnweb zu wirken, das nichts anderes war als das wachsende Bewußtsein vom Morgen. Die Menge der Ehemaligen Unterstadt hatte sich verdoppelt. Sie umschloß uns mit ihrem ausgesparten Schweigen, in dem nichts zu hören war als das klagende Weinen des Leidenden.
    Auch der Großbischof wartete, umgeben von seinem Klerus. Er wartete vor seiner Kirche, die mit erleuchteten grünen Fenstern halb aus der Erde ragte. Ein Teil der Geistlichen trug Kerzen. Fast machte es den Eindruck, als sei ein nächtlicher Gottesdienst unterbrochen worden, ein Bußgebet oder ein Umgang. Dennoch, der Kirchenfürst wartete auf den sterbenden Sternentänzer, um ihm die Ehre zu geben und durch Priesterhand die letzten Hilfen angedeihen zu lassen.
    Ich kann nichts Authentisches über das Verhältnis zwischen Djebel und Kirche berichten. Daß es lange nicht so gespannt war wie um die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts das Verhältnis zwischen Kirche und Wissenschaft, das wage ich ohne besondere Kühnheit zu behaupten. Der Lehrsatz »Vom unendlich verschiebbaren Mittelpunkt aller erdenklichen Umläufe« sowie die siebenundzwanzig Paradoxa Urslers, von denen wir nur den kleinsten Teil kennengelernt hatten, bildeten eher eine Brücke zwischen Religion und Wissenschaft als einen Abgrund zwischen beiden. Auch die Kirche war nicht mehr ganz dieselbe wie einst. Sie war, wie Joachim de Floris es im dreizehnten Jahrhundert prophezeit hatte, längst schon in ihre dritte dauernde Phase getreten, als »Ecclesia spiritualis«, als Kirche des Heiligen Geistes oder vergeistigte Kirche. Daß in letzter Zeit solche Ordensgemeinschaften wie die »Brüder vom kindhaften Leben« oder »Die Herde der Armen im Geiste« zu hohem Ansehn gelangt waren, mochte als bedeutsames Zeichen gelten, daß die Kirche sich gegen den Mentalismus, den Intellektualismus und die Gefahr symbolischer Verflüchtigung innerhalb ihrer eigenen Mauern zur Wehr setzte. Das Geistliche hatte sich zum Geistigen hin entwickelt, wie das Geistige zum Geistlichen. Zwischen beiden aber stand nach wie vor die unüberschreitbare Grenze, die Glauben und Forschen trennt. Waren die Chronosophen auch reine Mystiker, so verkleinerten sie durch ihre kühnen Raumfahrten doch den Himmel der Bischöfe und waren, recht besehen, gefährlicher als die altmodischen Sophisten Io-Sum oder Io-Clap mit ihren Gottesbeweisen und Gottesgegenbeweisen. Für die Chronosophen sprach freilich, daß sie den Wintergarten verschmähten. Daß der Großbischof den verunglückten Sonnentänzer in eigener Person erwartete, war eine Ehre, die er weniger dem zerstörten Djebel erwies als der selbstlosen Opfertat eines Kindes. Wie selten waren solche Taten geworden in einem Zeitalter der äußersten Bequemlichkeit und des körperlichen Nicht-Bemühens. Vielleicht aber wollte der Kirchenfürst auch dem Djebel Ehre erweisen, der von sinnlosen und frechen Narren in ein Trümmerfeld verwandelt worden war.
    Ich sah, wie er in Mitra und zartfarbigem Ornat mit hochaufgehobenen Händen auf uns zuschritt, gefolgt von einigen Klerikern. Mitten auf seinem feierlichen Wege aber blieb er plötzlich stehen, denn folgendes geschah. Kaum hatte ich es selbst recht zur Kenntnis genommen, daß die Eltern des Knaben, mentalerweise von dem Unglück herbeigerufen, schon eine ganze Weile neben der Bahre gingen. Ein zierlicher junger Mann und ein hübsches Frauchen im Goldkopfschmuck, die, gehorsam der Kulturforderung nach verhaltenem Ebenmaß selbst angesichts der schlimmsten Katastrophe, ihrem Schmerz keinen Ausdruck gaben. Ich bemerkte die beiden erst deutlicher, als
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