Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Blitz in Gefahr

Blitz in Gefahr

Titel: Blitz in Gefahr
Autoren: Walter Farley
Vom Netzwerk:
Das Geisterroß

    Der kraftvolle, hochgewachsene Mann stand kaum sichtbar vor dem dunklen Samtvorhang, der ihn von der Manege trennte. Er war dunkelhäutig, hatte volles, schwarzes Haar und war überdies von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet. Seine große, nervige Hand, eine Hand, die fest und entschlossen zuzupacken gewohnt war, strich so zart über den Hals der silberweißen Stute, die neben ihm auf ihren Auftritt wartete, als berührte sie einen Schatten. Das Pferd reagierte mit einem leisen Zucken der Ohren. Dieses Zeichen genügte ihm, er hatte sich nur vergewissern wollen, ob »Silberfee« bereit war. Vorsichtig schob er den Vorhang einen Spalt auseinander, um das riesige Zirkusrund zu betrachten.
    Er weilte zum erstenmal in der schwedischen Hauptstadt Stockholm und war sehr beeindruckt. Der hohe Raum glich in seiner geschmackvollen Ausstattung eher einem Theater als einem Zirkus und bot mit der großartigen Beleuchtung, den roten Plüschsesseln in den Logen und auf den Rängen und der elegant gekleideten Zuschauermenge einen überaus festlichen Anblick. Die Vorstellung war ausverkauft, und im Moment folgten aller Augen den Darbietungen der Reitergruppe Davisio Castinis.
    Das Orchester spielt einen munteren Marsch, während die schweren, ungesattelten Pferde das Manegenrund umkreisten.
    Der geheimnisvolle, dunkelhäutige Mann mochte diesen schweren Schlag nicht, aber natürlich wußte er, daß auch solche Pferde für einen Zirkus unentbehrlich waren. Die mit Straußenfedern geschmückten Köpfe und das mit blitzenden Steinen besetzte Zaumzeug entsprachen nicht seinem Geschmack.
    Er berührte seine Stute Silberfee noch einmal, und ihre Ohren spitzten sich in der Erwartung seines Kommandos.
    Niemals, gelobte er sich, sollte sein herrliches Tier mit so billigem Tand behängt werden! Kein Federschmuck, kein mit künstlichen Steinen verziertes Zaumzeug, keine bunten Bänder in Mähne und Schwanz geflochten — nichts! Nicht einmal einen Halfter! Ganz allein durch die Perfektion ihrer Vorführung der Hohen Schule sollte sie die Zuschauer überwältigen!
    Er drückte sich enger an den Vorhang, um nicht gesehen zu werden. Sein Gesicht zeigte keine Regung — er hätte sich niemals gestattet, seine Gefühle zu verraten, weder außerhalb noch in der Manege. Kalt und maskenähnlich und mit tiefliegenden, starrblickenden schwarzen Augen glich er einer klassischen Skulptur. Stets hatte er gemerkt, daß sich die Menschen vor ihm fürchteten; aber nie hatte er versucht, das zu ändern, denn diese Wirkung war ihm gerade recht.
    Der Dressurakt mit den ungesattelten Pferden war beendet, das Orchester ließ einen Trommelwirbel hören, der Beifall der Menge war höflich, aber nicht hingerissen. Der Mann hatte ein scharfes Ohr — er stellte fest, daß das Publikum trotz der festlichen Aufmachung so kalt reagierte, daß man sich an die eisige Temperatur erinnert fühlte, die im Freien draußen herrschte.
    Jetzt, da es Zeit wurde, die Stute allein in die Manege zu entlassen, nestelte er eine kleine goldene Statuette aus seiner Tasche und rieb sie sanft. Sie erwärmte sich dabei in seinen großen schwarzen Händen, und das vermittelte ihm Mut und Vertrauen. Er glaubte fest an die Kraft seines Talismans, denn das Blut seiner haitianischen Vorfahren machte ihn abergläubischer, als die Menschen in diesen nördlichen Breitengraden hätten verstehen können.
    Der Stallmeister in Gehrock und Zylinder gab ihm das Zeichen, sich bereitzumachen.
    »Bientôt, ma chérie!« (»Gleich, meine Liebe!«) flüsterte er seiner Stute zärtlich zu.
    Wieder erschütterte ein Tusch der Bläser die Luft. Nachdem er verstummt war, erklang die Stimme des Stallmeisters durch den großen Raum ebenso klar und durchdringend wie die Trompeten.
    »Meine Damen! Meine Herren! Liebe Kinder!« sagte er auf schwedisch, »der Zirkus Heyer freut sich, Ihnen das >Geisterroß< vorzuführen...«
    Als der Besitzer des Pferdes die Einführung hörte, ging ihm durch den Sinn, in wie vielen Sprachen er diese Ankündigung schon gehört hatte. Mehr als zehn Jahre war er mit verschiedenen Zirkusunternehmen quer durch Europa gereist.
    Er verstand ein wenig Schwedisch, aber das war eigentlich gleichgültig, denn der Sinn war überall derselbe. Er hatte den Text selbst verfaßt, wie er auch die Musikbegleitung selbst komponiert hatte, daher fühlten sich Herr und Pferd in jedem Land heimisch, in dem sie auftraten.
    Es entstand dann eine lange Pause, während der die Lichter der
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher