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Sterben War Gestern

Sterben War Gestern

Titel: Sterben War Gestern
Autoren: Corinna Waffender
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gelassen.“ Anita liefen nun Tränen über das Gesicht, und Inge spürte einen Druck am Körper, als käme ihr eine Welle entgegen. Der Mann vor ihr schwankte und stammelte etwas, machte einen Schritt zurück, doch Anita ließ ihn nicht zu Wort kommen.
    „Ich habe mich fünfzig Jahre lang für euch bestraft. Mich nie getraut, zu tun, was ich wirklich will. Einen Beruf ergriffen, den ich nicht mag, einen Mann geheiratet, der nicht gut für mich ist, eure Krankheiten bekommen und in eurem Gefängnis voller Zwänge und Lügen gesessen. Ich werde euch jetzt zurücklassen und in eine Zukunft ohne euch gehen. Dort wartet ein neues Leben auf mich.“
    Inge hatte das Gefühl, mit aller Gewalt Richtung Tür gedrängt zu werden.
    Anita atmete tief durch, schaute noch einmal vom einen zur anderen und setzte dann zum Rückzug an. Je dichter sie dem Bambusstock auf dem Boden kam, umso fragiler erschienen Inge die gespielten Eltern, von denen die Tochter sich entfernte.
    „Mutter, Vater – ich vergebe euch, ihr seid frei.“ Anita trat entschlossen auf die andere Seite des Bambusstocks, dann veränderte sich plötzlich ihr Gesicht und ihre Lippen formten sich zu einem Lächeln. „Und ich bin es auch.“
    In diesem Augenblick begann Inge Nowaks linker Oberschenkel zu kribbeln. Als würde eine Armee Ameisen über sie herfallen und die Kraft aus ihren Muskeln saugen, musste sie in die Hocke gehen. Durch die Lücke der Beine vor ihr sah sie, wie Anita die Seite wechselte, die Eltern keines Blickes mehr würdigte und der jüngeren Frau auf der anderen Seite des Bambusstockes, die ihr einen Schritt entgegengegangen war, in die Arme fiel. Sie hörte nicht, was gesprochen wurde, der Tinnitus wütete in ihrem Ohr, sie war wie in Watte gepackt, und nun erst bemerkte sie, dass ihr Tränen aus den Augen liefen. Unmöglich aufzustehen, unmöglich, Contenance zu bewahren, etwas hatte von ihr Besitz ergriffen, und entgegen allen ihren Vorsätzen, sich nichts und niemandem jemals wieder zu nähern, ließ sie es geschehen, dass jemand sie an sich zog, ließ sich sanft wiegen, vergrub ihren Kopf in einem fremden Schoß und schlang ihre Arme um weiche Hüften, von denen sie keine Ahnung hatte, wem sie gehörten.
    Verónica Sánz saß an Inges Schreibtisch und starrte auf den Bildschirm des längst abgeschalteten Computers. Noch vor ein paar Tagen hatte sie Inges Abreise kaum erwarten können, hatte sich erhofft, dass der räumliche Abstand zwischen ihnen Luft zum Durchatmen bringen könnte und sie sich weniger angespannt fühlen würde. Doch das Gegenteil schien einzutreten. Kaum war Inge in den Zug gestiegen und Verónica in die S-Bahn, hatte eine bisher ungekannte Müdigkeit sie überfallen. Im Büro, während der täglichen Teambesprechung hatten ihre Augen zu tränen begonnen, und Erkner hatte natürlich gedacht, sie weine wegen Inge.
    Am Nachmittag waren sie zusammen bei einer Zeugenbefragung gewesen, und ihr Kollege, der in Inges Abwesenheit auch Leiter der Mordkommission war, hatte sie danach auf eine Pizza im Stehen eingeladen.
    „Quatsch, ich bin nicht traurig. Ich bin wahnsinnig froh, dass Inge endlich in der Klinik ist und professionelle Hilfe bekommt. In den letzten Wochen hatte ich echt Angst, dass sie zusammenklappt.“
    „Und du?“
    „Wie, ich?“
    „Wann klappst du zusammen?“
    „Ich hab doch gar keinen Grund dazu.“
    Der Hauptkommissar runzelte die Stirn und schüttelte heftig den Kopf.
    „Entschuldige, wenn ich dir zu nahe trete, aber mir scheint, deine Wahrnehmung ist gestört. Ihr habt doch genauso lang den gleichen Stress, wieso sollte es dir denn besser gehen?“
    „Weil ich nur Nebendarstellerin in dem Film bin?“
    „Und wer hat die Rollen verteilt?“
    Verónica zog eine Salamischeibe von dem Pizzabelag ab und kämpfte mit dem Käse dazwischen. Sie wusste nur allzugut, wie recht Frank Erkner hatte. Ausgesprochen hatte sie es höchstens wütend im Streit mit Inge und sich danach geschämt.
    „Der unbekannte Regisseur, der sich dieses Scheißdrama ausgedacht hat?“, fragte sie scherzhaft.
    „Falsch. Der hat nur das Drehbuch geschrieben. Den Rest habt ihr improvisiert.“ Erkner wischte sich mit einer dünnen Serviette über den Mund, zerknüllte sie und warf sie in einen Mülleimer, der gleich neben ihm stand. „Und wie ich finde, durchaus auch auf deine Kosten.“
    So hatte er in all den Jahren nie mit ihr gesprochen und Verónica wusste nicht, ob sie es als unangenehm empfand oder einfach nur von seiner
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