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Sterben War Gestern

Sterben War Gestern

Titel: Sterben War Gestern
Autoren: Corinna Waffender
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grausam. Sie hatte also den Zug genommen. Und vom Bahnhof ein Taxi zur Fachklinik für Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin mit dem vielsagenden Namen Seerose .
    Die bereits in die Jahre gekommenen Sitzmöbel im Eingangsbereich, der die Spuren der Zeit zeigende Empfang in gedrechselter Kiefer samt der kleinen Glocke, die sie noch immer nicht in die Hand zu nehmen wagte, verunsicherten Inge Nowak ebenso wie die gelben Sonnenschirme auf der großzügigen Terrasse, die hinter einer offenstehenden Glastür zu erkennen war. Für einen Augenblick fühlte sie sich zurückversetzt in die 1970er Jahre, als sie die deutsche Küste noch nicht wegen seelischer Beschwerden aufgesucht hatte, sondern zwischen ihrer Mutter und ihrem Vater an der Nordsee durchs Watt gewandert war. Das Zustellbett hatte sie mit dreizehn als Zumutung empfunden, und der bloße Gedanke, ihre Eltern könnten sich neben ihr auch nur zufällig berühren, hatte sie kaum ein Auge zutun lassen. Ähnlich schlecht schlief sie seit nun mehr einem halben Jahr, und das, obwohl von Gesellschaft in ihrem Schlafzimmer keine Rede mehr sein konnte.
    „Auch gerade angekommen?“
    Ein schlaksiger Kerl in Ledermontur, der eher den Eindruck eines Möchtegern-Rockers als den eines Kranken auf sie machte, stellte sich neben sie und griff beherzt nach der Glocke. Sie nickte hilflos und wäre am liebsten im Boden versunken, als der Messingschlegel hart gegen das Metall schlug und die Blicke aller im Foyer Anwesenden neugierig auf ihnen beiden verharrten.
    „Warten Sie schon lange?“, fragte der Riese.
    Inge schüttelte den Kopf. „Höchstens fünf Minuten.“
    „Wird schon einer kommen.“
    „Bestimmt.“
    In ihren Schläfen pochte es, wie immer, wenn sie sich in die Enge getrieben fühlte, kurz bevor der Schweiß ausbrach, das Atemholen schwerer wurde und sie nur noch eines wollte: raus, sofort raus an die frische Luft.
    Gerade als sie die fünf Stufen zum Ausgang wieder nach oben gehen wollte, erschien eine junge Frau in bunter Bluse an der Rezeption, die den Hochgewachsenen etwas fragte. Inge Nowak hörte nicht, was die beiden sprachen, sah nur ihre Münder sich öffnen und schließen und bemerkte, dass die Körper in eine eigentümliche Schieflage gerieten, die Köpfe nach links tendierten und mit ihnen das Messingglöckchen, das Schild mit der Aufschrift: Neue Patienten bitte klingeln . Instinktiv griff sie nach dem Rand des Tresens, verfehlte ihn knapp, fasste nach, riss ein mittelgroßes Arrangement aus rot-weißen Plastikrosen mit sich, stolperte über ihren Koffer und landete, bereits ohnmächtig, in den langen Armen des verblüfften Ledertypen.
    Die energische Frau in bunter Bluse, die sich als Schwester Agathe vorgestellt hatte, händigte Inge Nowak nach einem Konglomerat von guten Ratschlägen, scherzhaften Androhungen und besorgten Fragen endlich einen Zimmerschlüssel aus. Rückzug auf ihren Balkon mit Blick aufs Meer – nach dem Wiegen, Blutabnehmen und Blutdruckmessen wollte sie nur noch eins: eine Zigarette.
    „Wir haben leider kein Strandzimmer mehr für Sie.“
    Inge hatte die Bemerkung nur mit halbem Ohr wahrgenommen, doch als sie die Zimmertür aufschloss und sah, welche Aussicht ihr die nächsten Wochen bevorstehen sollte, begriff sie schlagartig, wie wesentlich diese Information gewesen war. Zimmer 101 lag im ersten Stock, direkt über dem Lieferanteneingang und der Ein- und Ausfahrt der viel befahrenen Bundesstraße. Ein winziger Austritt schloss mit der Überdachung des Klinikeingangs ab, eine löchrige Teerdecke, die schon bessere Zeiten gesehen hatte. Nach etwa zehn Metern endete der freie Blick aus dem Fenster auf dem gegenüberliegenden Parkplatz, eine wilde Balkenkonstruktion samt Ziegelsteinschräge versperrte die Aussicht auf ein Stück Himmel. Dafür konnte jeder, der die Klinik durch den Haupteingang betreten würde, bei zurückgezogenen Vorhängen ihr Zimmer einsehen und auf ihren Balkon spucken. Auch wenn zu diesem Zeitpunkt noch unklar war, wer daran ein Interesse haben sollte.
    Sie ließ ihren Koffer mitten im Zimmer stehen und schaute sich unschlüssig um. Der Farbton der Wände passte gut zum Rosé im Erdgeschoss und zum hellen Lila des Teppichbodens. Zum zweiten Mal an diesem Tag sank die Kriminalhauptkommissarin in sich zusammen, diesmal in einen Polstersessel mit hoher Lehne. Wäre es ein elektrischer Stuhl gewesen, hätte Inge Nowak freiwillig die Stromzufuhr betätigt.
    Sterben, dachte sie, sofort sterben, endlich
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