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Sterben War Gestern

Sterben War Gestern

Titel: Sterben War Gestern
Autoren: Corinna Waffender
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Rest galt es zu beweisen. Nur nicht die Herkunft verraten, alles dafür tun, sie nicht zu erinnern und Fakten schaffen, die jeden Gedanken daran im Keim erstickten. Sich selbst dabei zuzusehen, ein neuer Mensch zu werden, vielleicht überhaupt erst ein Mensch zu werden, dient der Selbstkontrolle. Man darf dabei keine Fehler machen, nicht zögern und sich nicht verunsichern lassen: Der Weg nach oben ist steil, steinig und kostet Kraft. Aber er lohnt sich. Denn vom Gipfel aus betrachtet, ist der Rest der Welt verschwindend klein und der Mensch, der ihn erklimmt, Teil des mächtigen Bergmassivs. Solange man sich an der Spitze orientiert, kann einem nichts passieren. Nur nicht in den Abgrund sehen. So dachte der Mensch, während er sich dabei beobachtete, wie er mit bedächtigen Schritten zu einem Fenster ging. Seine Schritte waren fest und er zufrieden mit seinem Auftreten. Erst als er sich wieder setzte, sah er für einen Augenblick deutlich vor sich, was ihm bevorstand, und sein linker Mundwinkel zuckte bei dem Gedanken ganz leicht.
    Während Inge im Therapieraum ihren Gedanken nachhing und versuchte, die Aufmerksamkeit von sich abzulenken, indem sie unbeirrt auf einen unsichtbaren Punkt auf dem Boden starrte, hatten die anderen begonnen, Vorbereitungen für eine Familienaufstellung zu treffen. Inge hatte von Berger schon darüber gehört. Seit er nicht mehr an ihrer Seite ermittelte, sondern sich der Gewaltprävention verschrieben hatte, begeisterte er sich für moderne Therapiemethoden. Ganze Systeme ließen sich angeblich in einer Art Laientheater aufstellen, ihrem Kollegen nach zu urteilen eine vortreffliche Methode, alte Muster aufzulösen und sich von überkommenen Abhängigkeiten und ungelösten Konflikten zu befreien.
    Es ging um Anita. Der vielleicht Sechzigjährigen war inzwischen jegliche Farbe aus dem Gesicht gewichen und sie sah aus, als würde sie jeden Augenblick zusammenbrechen. Die Stühle standen nun an der Wand, die Gruppenmitglieder hatten sich im Raum verteilt. Inge hielt sich nahe der Tür, die Arme vor dem Körper verschränkt. All das war ihr nicht geheuer. Wie durch Nebel sah sie dabei zu, wie Anita einen Mann und eine Frau aussuchte und sie stellvertretend als ihre Eltern mitten im Raum platzierte. Dann ergriff sie die Hand einer anderen, jüngeren Frau und sagte zu ihr: „Du bist mein inneres Kind.“
    Nicht weniger ernst erwählte sie einen zweiten Patienten, der zwei Köpfe größer war als sie selbst: „Und du bist mein Beschützer.“
    Die beiden stellte sie den Elternvertretern gegenüber, dazwischen legte sie ein Bambusrohr, das der Therapeut ihr gereicht hatte.
    Schwachsinn, dachte Inge Nowak, vollkommener Schwachsinn. Was zum Teufel, mache ich bloß hier?
    Gerne wäre sie einfach durch die Glastür verschwunden, hätte sich draußen hingesetzt und in aller Ruhe eine geraucht. Aber es war ja verboten, den Raum zu verlassen. Stattdessen musste sie mit anhören, wie Anita den Auserwählten Namen gab und kurz erklärte, wo sie in der Familienhierarchie standen.
    Schließlich hatte man sich fertig gruppiert und das konzentrierte Schweigen im Raum deutete daraufhin, dass es losging.
    „Mutter“, sagte Anita in die Stille zu der Frau vor ihr und ihre Stimme zitterte. „Deine Liebe habe ich nie gespürt. Du hast mir immer nur Geld gegeben. Wolltest ein besseres Leben für mich, als du es selbst hattest. Ich sollte tun, was du nicht geschafft hast. Weil du dich nie getraut hast, deinen Weg zu gehen. Weil du Angst hattest, Vater zu verlassen. Und mich.“
    Bei diesen Worten schluchzte plötzlich der junge Mann auf, der zu spät gekommen war. Er hatte sich in die hinterste Ecke des Raums verkrochen und verbarg nun den Kopf in den Armen. Auch Inge spürte eigenartigerweise einen Kloß im Hals. Die sogenannte Mutter war nur wenige Schritte von ihr entfernt und unwillkürlich trat sie ein wenig zur Seite, sodass sie jetzt mehr hinter dem Vater stand.
    Anita sprach jetzt lauter. „Heute darfst du mich verlassen, ich bin alt genug, meinen Weg allein zu gehen.“
    Die Angesprochene hob versöhnlich die Arme, doch Anita wich zurück.
    „Lass mich. Ich habe lange genug darauf gewartet, dass du dich um mich kümmerst. Jetzt ist es zu spät. Hab lieber den Mut, endlich du selbst zu sein.“
    Damit wandte sie sich der Vaterfigur zu.
    Ihre Stimme wurde weicher. „Du hast dich verraten, verleugnet und bist an deiner Todesangst zugrunde gegangen. Du bist einfach abgehauen und hast mich alleine
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