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Sterben War Gestern

Sterben War Gestern

Titel: Sterben War Gestern
Autoren: Corinna Waffender
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Offenheit überrascht war.
    „Auch auf die Gefahr hin, dass du mich grenzüberschreitend findest“, fuhr er fort und drückte dabei das Blech seiner leeren Coladose ein. „Ich glaube, du solltest damit aufhören, immer nur an Inge zu denken. Wer kümmert sich denn um dich? Was ist denn mit dir? Willst du mir erzählen, dass an dir alles spurlos vorbeigegangen ist? Das Mädchen seit Monaten in der Klinik, ihre Mutter hasserfüllt im selben Haus, das Disziplinarverfahren gegen Inge und vor allem ihr Zustand seitdem? Natürlich hatte sie allen Grund dazu, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Aber sie ist nicht das einzige Opfer.“ Fast hatte er sich in Rage geredet, und Verónica fragte sich, wie lange er diese Gedanken schon für sich behalten hatte. Er holte Luft und dämpfte seine Stimme. „Was ich sagen will, ist: Ich habe vollstes Verständnis für Inge und ihre Situation. Aber ich verstehe nicht, wie sehr du dich davon mitreißen lässt. Ich kenne dich jetzt seit fast zehn Jahren und davon sieben als Kollegin. Ich hab dich noch nie so wenig lachen hören, noch nie so nachdenklich gesehen und noch nie so unkonzentriert erlebt. Wo ist deine Lebensfreude?“
    Verónica verzog leicht das Gesicht. „Das ist nicht so einfach, wie du denkst. Wenn du Tag für Tag mit einem Menschen zusammen bist, der sich in den Keller seiner selbst zurückgezogen hat, zieht es dich automatisch auch nach unten.“
    „Hübsche Metapher.“
    „Ich gebe mir Mühe.“ Sie sah auf die Uhr. „Oje, wir müssen los.“ Sie schob die Pappteller zum Wegwerfen zusammen. „Aber ich habe die Lektion verstanden. Irgendwie bin ich auch froh, dass ich die nächsten vier Wochen alleine bin. Ich bin, glaube ich, wirklich ziemlich erschöpft.“
    „Erschöpft? Du bist fix und fertig, Mädchen.“ Erkner trat einen Schritt zurück, damit sie leichter an den Mülleimer kam. „Und deshalb gehst du jetzt nach Hause.“
    „Unsinn, wir …“
    „… machen heute gar nichts mehr, den Papierkram schaffe ich alleine. Und morgen ist Freitag, da will ich dich nicht im Büro sehen. Du machst dir jetzt einfach drei ruhige Tage. Das ordne ich an, das kann ich, ich bin nämlich für die nächsten vier Wochen dein Chef.“ Er grinste und hielt ihr die schmuddelige Tür der Stehpizzeria auf. „Nach dir.“
    Draußen blieb Verónica stehen und für einen winzigen Moment verspürte sie das Bedürfnis, Frank Erkner zu umarmen. Stattdessen wartete sie, bis sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, sah ihn nur ernst an und sagte leise: „Danke.“
    Wenn Ereignisse keine Schatten vorauswarfen, konnten sie nicht so schlimm sein. Wenige Stunden, bevor er einen anderen töten würde, saß der Mensch in einem von der letzten Nachmittagssonne beschienenen Zimmer und schaute hinaus. Er dachte, dass die Fenster dringend geputzt werden müssten. Auch war es an der Zeit, dass sich jemand um den Garten kümmerte. Vielleicht wäre das eine schöne Beschäftigung für die Tage danach, in gewisser Weise ein körperlicher Ausgleich für die geistige Anstrengung der vergangenen Wochen. Der Mensch hatte noch nie Sträucher beschnitten, ein Beet bepflanzt oder Unkraut gejätet. Aber er gönnte sich den Luxus, sich mit Grün zu umgeben. Er, der zwischen Waschbetonplatten und Wäscheleinen groß geworden war, wo schlechtgelaunte Nachbarinnen unerbittlich über den abgezirkelten kurzgeschorenen Rasen für ihre Bettlaken und Handtücher herrschten. Von Blumen und Bäumen weit und breit keine Spur, ein wenig Wildwuchs im Schotter an den nahegelegenen Bahngleisen, sonst alles Grau in Grau.
    Ein Garten, so schien es dem Menschen Jahrzehnte später, war der Inbegriff des geordneten Rückzugs der Seele. Ein überschaubarer Raum halbwegs gezähmter Natur, der seinem nicht seltenen Bedürfnis nach Ruhe und Einfachheit entsprach. Sitzen und lesen unter Bäumen entspannte ihn ebenso sehr wie das Hören klassischer Musik vor dem Einschlafen. Und wurde nicht gerade der Gärtner immer scherzhaft für den Mörder gehalten? Wäre es nicht eine geradezu feinsinnige Volte, sich im Garten zu verschanzen, bis alles vorüber wäre? Der Mensch mit Sinn für Humor ließ seinen Blick schweifen: Die Hecken wucherten wild, die Beete waren mit Unkraut durchsetzt, der Frühling hatte ganze Arbeit geleistet. Aus den bis vor wenigen Wochen noch kahlen Ästen sprossen grüne Blätter, die Forsythien blitzten unverschämt gelb und die Krokusse hielten wacker dem Ostwind stand. Auch die letzten Knospen an
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