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Sterben War Gestern

Sterben War Gestern

Titel: Sterben War Gestern
Autoren: Corinna Waffender
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den Sträuchern standen kurz vor dem Bersten. So wie die Pflanzen hatte auch der sonnenhungrige Mensch nach einem langen Winter nach der Wärme gelechzt und sich, wie so viele, auf die ersten Narzissen gefreut. Für einen winzigen Moment wurde er melancholisch: Es würde jemanden geben, der das große Blühen nie mehr zu Gesicht bekäme, und kein anderer als er hätte das zu verantworten. Doch die Schwere in ihm war flüchtig, hielt nicht lange genug an, ihn zweifeln zu lassen. Sein Entschluss stand fest, die Dinge hatten bereits ihren Lauf genommen. Und so wie der Frühling täglich Leben neu erweckte, so war der Mensch bereit, eines auszulöschen.
    „Warum kommst du nicht mit zum Strandfeuer?“ Ewald Klee versperrte ihr nach dem Abendessen spielerisch den Weg zur Treppe.
    „Ich mag kein Feuer.“
    „Grundsätzlich nicht?“
    „Grundsätzlich nicht.“
    „Dann ist das natürlich nicht das Richtige.“
    „Eben.“
    Inge ließ ihn grußlos stehen, zog sich am Treppengeländer hinauf und versuchte, die Stufen möglichst schnell zu nehmen. Flucht nach vorn, nur keine Rede und Antwort stehen, bloß zurück ins Zimmer. Irgendwie die Tür aufschließen, hinter sich zuziehen, zum Bett stolpern und liegen. Das Wummern im Kopf, das Karussellfahren, alles besser als die Welt da draußen, die Stimmen, das fremde Leben.
    Feuer, dachte sie, ausgerechnet.
    Und schon lief der Film: Wie der ohrenbetäubende Knall das Frühstück mit Verónica jäh beendete. Wie sie beide gleichzeitig zum offenen Fenster rannten und nach unten sahen. Wie sie ihren Augen nicht trauten, wie sie allmählich begriffen, was auf der Straße vor dem Haus brannte und was das bedeutete. Wie sie die Feuerwehr und einen Krankenwagen riefen, wie sie die Treppen hinunterliefen, wie sie die bewusstlos vor dem Auto liegende Johanna von den Schaulustigen abschirmten, sie in die stabile Seitenlage brachten, wie Minuten zu Stunden wurden. Bis endlich das Martinshorn zu hören war, musste Verónica unter Aufbietung all ihrer Kräfte Susanne festhalten, damit sie nicht zu nah an ihre Tochter kam: O Gott, o Gott, o Gott, das darf nicht wahr sein, bitte, bitte, bitte, lass es nicht wahr sein . Das Entsetzen, das Schreien, das Murmeln der Umstehenden, und immer wieder der verwundete Körper der Zweiundzwanzigjährigen auf dem Asphalt. Johanna, die sie kannte, seitdem sie auf der Welt war, die sich zehn Minuten zuvor Inges Auto geliehen hatte, um eine Freundin vom Flughafen abzuholen.
    Inge hob den Arm und malte Achten in die Luft. Die Gedankenschleife ließ sich nur unterbrechen, wenn sie die linke und die rechte Gehirnhälfte miteinander verband. Behauptete ihre Therapeutin in Berlin. Doch sie wusste, es würde nur wenige Minuten dauern, bis der brennende Wagen wieder vor ihrem inneren Auge auftauchte; das Wort Feuer reichte aus, um die Bilder im Handumdrehen zu aktualisieren. Am Anfang hatte sie kaum eine Zigarette anzünden können, hatte wochenlang statt eines Feuerzeugs oder Streichhölzer einen Elektroanzünder benutzt. Ihr ganzes Empfinden von Hitze hatte sich verändert, nachdem sie neben Johanna auf den Krankenwagen gewartet hatte, ihren eigenen Körper schützend vor das Mädchen gebeugt, den Blick fest auf die geschlossenen Augen gerichtet, auf ein Wunder hoffend.
    Ein Wunder, das nicht eingetreten war.
    Eigentlich war es noch zu früh zum Schlafen, eigentlich sollte sie Verónica noch anrufen, die sicher wissen wollte, wie der erste Tag verlaufen war. Was würde sie dann sagen? Dass sie Angst in diesem Zimmer hatte, sich fühlte wie in einem billigen Motel, an dem die Autos vorbeirasten, während sie an Ort und Stelle verrückt wurde?
    Die Patientin in Zimmer 101 sah und hörte nichts. Nicht das Geräusch von geschütteltem Benzin in einem Kanister in der Dunkelheit. Nicht das Aufprallen des leeren Plastikbehälters im Sand. Nicht das Streichholz, das über die Reibefläche gezogen wurde, kurz und hart, bis zum Funkenschlag. Und nicht das sich entfachende Feuer, das die Wände und den Boden entlangzüngelte und bald den leblosen Körper in der Mitte erreichen würde. Es wäre nur eine Frage der Zeit, bis die Flammen die gelbe Strickjacke und das orangefarbene Kleid vernichten, die Haare von dem seitlich aufliegenden Kopf fressen und sich an der Haut festbeißen würden.
    Bis auf die Notbeleuchtung im Foyer und das funzelige Licht im Schwesternzimmer war in der Klinik alles dunkel. Wer unter Schlaflosigkeit litt, sah mit Kopfhörern fern, um die
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