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Mein Onkel Ferdinand

Mein Onkel Ferdinand

Titel: Mein Onkel Ferdinand
Autoren: Horst Biernath
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    Drei Möglichkeiten boten sich mir für den Sommerurlaub, den ich Anfang August antreten sollte. Götzingers hatten mich auf ihre Hütte ins Karwendel eingeladen. Helmut Storz hatte mir den Vorschlag gemacht, mit ihm nach Sylt zu gehen und in Westerland faule Tage und fröhliche Nächte zu verleben, eine Tante von ihm besaß dort ein Fremdenheim und hatte ihm ein Zweibettzimmer zur unentgeltlichen Benutzung angeboten. Und mit Heinz Appel, einem Studienfreund, sollte ich eine Faltbootfahrt von Ulm bis zur ungarischen Grenze machen, im Zelt nächtigen und in der Asche unserer Lagerfeuer selbstgefangene Fische braten. Es waren drei reizvolle und vor allem außerordentlich preiswerte Möglichkeiten.
    Und dann überraschten mich die Ferien, und aus war es mit allen Urlaubsplänen. Der Chefchemiker nämlich mußte seine Hochzeit aus familiären Gründen — weil seine zukünftige Schwiegermutter am Blinddarm operiert worden war — auf den August verschieben, und dadurch purzelte der ganze, sorgsam ausgewogene Urlaubsfahrplan durcheinander. Und da ich der jüngste der Herren und dazu noch der einzige Junggeselle war, hieß es einfach: »Ach, lieber Martin, Ihnen macht es ja am wenigsten aus, nicht wahr — und dann sind Sie wohl so gut und treten Ihren Urlaub sofort an.«
    Und dann murmelte der Chef noch etwas von Kollegialität, und der Juni wäre ja auch ein ganz schöner Urlaubsmonat, und der Regen würde ja nicht ewig anhalten. Denn es goß seit Mitte Mai fast ununterbrochen. Und so begann die Geschichte. Ich wurde in den Urlaub hineingestoßen und ahnte nicht, welche Überraschungen das Schicksal für mich vorbereitet hatte.
    Am ersten Urlaubstag goß es noch immer in Strömen. Ich stieg am Vormittag auf den Speicher hinauf, um an meinem Moped ein wenig herumzuschlossern. Das alte Ding hatte mich schon durch mein Studium begleitet und von der Vorlesung ins Labor und wieder zurück zur Uni getragen. Ich dachte auch nicht etwa an größere Touren, ich wollte es nur bereitmachen, falls die Sonne in den nächsten Tagen doch einmal zum Vorschein kommen sollte. Das Schwimmbad lag ziemlich weit außerhalb der Stadt, und auch sonst war ein fahrbarer Untersatz im Urlaub immer zu gebrauchen. Zwei Stunden lang bosselte ich an dem alten Vehikel herum, schmirgelte den Rost von den Speichen und schmierte es ab. Währenddessen rauschte der Regen über die Dachziegel und wusch das blinde Speicherfenster. Dann mahnte mich mein Magen daran, daß es Zeit zum Mittagessen sei, und ich ging wieder in unsere Wohnung im zweiten Stockwerk hinunter, zunächst einmal in die Küche, um mir gründlich die Hände zu waschen. Minna hatte es nicht gern, wenn man das Waschbecken im Bad verunreinigte.
    In den kurzen Stunden meiner Abwesenheit war irgend etwas geschehen. Ich roch dicke Luft. Ich roch sie im gleichen Augenblick, in dem ich die Küchentür öffnete und Minnas Gesicht sah. Sie war jetzt seit dreißig Jahren in unserem Hause — volle zwei Jahre länger als ich selber! —, und meistens behandelte sie mich so, als ob ich vorgestern auf die Welt gekommen sei.
    »Wo in aller Welt hast du bloß gesteckt, Hemscher?« fragte sie flüsternd. Sie nannte mich trotz aller Proteste unentwegt Hemscher. Es war der Name, den ich mir bei meinen ersten Sprechversuchen selber zugelegt hatte.
    Für gewöhnlich flüsterte Minna übrigens nicht. Nur, wenn mein Vater, der einzige in der Familie, den Minna respektierte, einen beruflichen oder privaten Ärger mit sich herumtrug, von dem auch Minna überzeugt war, daß er berechtigt sei, dämpfte sie ihre Stimme und bewegte ihre neunzig Kilo mit der schwebenden Leichtigkeit eines Gespenstes durch die Räume unserer Fünfzimmerwohnung.
    »Was ist denn bloß los?« fragte ich.
    »Onkel Ferdinand ist gekommen!« säuselte Minna mir zu.
    In diesem Augenblick jedoch wurde unser Gespräch durch das Dazwischentreten meiner Mutter unterbrochen. Sie kam aus dem Eßzimmer und hatte, was man in der ohnehin ziemlich dunklen Küche, die an diesem trüben Regentag noch lichtloser war, dennoch erkennen konnte, tränengerötete Augen. Als sie mich erblickte, hob sie die Hände und bewegte sie wie ein Dirigent, der einen Posaunenchor ins Pianissimo herabdrückte.
    »Es ist furchtbar!« seufzte meine Mutter und kam händeringend näher, »dein Onkel Ferdinand ist wieder einmal im Lande!«
    Ich mußte an mich halten, um ernst zu bleiben.
    »Dein Onkel Ferdinand!« Es klang geradeso, als schöbe sie ihn mir zu und als mache sie
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