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Der entgrenzte Mensch

Titel: Der entgrenzte Mensch
Autoren: Rainer Funk
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VORWORT
    Im Sommer 2001 verbrachten meine Frau und ich eine Woche auf einem Campingplatz am Atlantik in Südwestfrankreich, direkt hinter der Düne gelegen. Eine halbe Stunde nach Mitternacht kehrten noch einige Disko-Besucher auf den Platz zurück zu ihren Zelten und Campingwagen. Als die letzten Gespräche in der direkten Umgebung verklungen waren, war endlich an Schlaf zu denken. Da holte uns etwa eine Stunde später ein dezenter Gitarrenklang aus dem ersten Tiefschlaf. In unmittelbarer Nähe von uns saß ein junger Mann vor seinem VW-Bus und spielte auf seiner Gitarre, wie wenn es um ihn herum niemand anderen gäbe. Er spielte so schön, dass sich in der nächtlichen Stille alle Aufmerksamkeit auf den leisen Klang seines Instrumentes richten musste - und an Schlaf nicht mehr zu denken war. Da das verträumte Spiel nicht enden wollte, machte sich gegen zwei Uhr meine Frau auf den kurzen Weg zu ihm. Sie bat ihn, doch wahrzunehmen, dass es mitten in der Nacht sei und dass wir und vermutlich auch andere schlafen wollten. Der junge Mann reagierte ganz freundlich und sagte, wenn wir schlafen wollten, dann würde er aufhören zu spielen.
    Auf den ersten Blick mag man dieser nächtlichen Episode keine besondere Bedeutung zumessen. Die Reaktion des jungen Mannes ist ganz einfach zu erklären: Er hörte auf zu spielen, weil meine Frau ohne Vorwurf, freundlich und mit durchaus nachvollziehbaren Gründen um Nachtruhe gebeten hatte. Vermutlich war es auch gut, dass meine Frau sich auf den Weg gemacht hatte, weil ich, aus dem ersten Schlaf gerissen, genervt war und mir mit dem Arsenal psychoanalytischer Deutungsmodelle in meinem Kopf nur vorstellen konnte, dass hier ein Narzisst mal wieder nur sich selbst kennt und glaubt, allein auf der Welt zu sein. Stutzig machte mich
allerdings seine Reaktion. Denn eigentlich hatte ich erwartet, dass er in seinem gekränkten Narzissmus mit irgendwelchen Entwertungen reagieren würde: Was wir Alten eigentlich auf diesem vor allem von Jugendlichen besuchten Campingplatz suchten? Und wenn es uns störe, dann könnten wir ja Ohropax nehmen!
    Nichts davon. Der junge Mann vor dem VW-Bus mit Wiesbadener Nummer gestaltete sein Leben einfach nur ganz selbstbestimmt. Er wollte dem, was er spürte, dieser spontanen Regung seines Ichs, einfach Raum geben. Er tat es, so begann ich zu ahnen, gerade deshalb, weil es reizvoll und ungewöhnlich ist, in dieser nächtlichen Stille die Saiten erklingen zu lassen und die Totenstille zu entgrenzen. Dass alle anderen die Zeit zum Schlafen nutzten und nach Vorgabe der Platzordnung zwischen 23.30 Uhr und 7.00 Uhr keine Musik gemacht werden durfte, wusste er. Aber solche Vorgaben und Maßgaben anderer konnten den Impuls zu dieser nächtlichen Inszenierung nicht zum Schweigen bringen. Das Streben nach Entgrenzung, das sich frei von Vorgaben weiß, war für sein Tun bestimmender.
    Seine Reaktion auf die Bitte um Ruhe, um schlafen zu können, macht noch etwas anderes deutlich: Sein Entgrenzungsstreben entsprang zwar einem Ich, das im Wortsinne rücksichts-los ist, also nichts im Blick haben will, das allgemein gültig, bindend und vorgegeben wäre; es will sich und die Welt und die Regeln des Miteinanders vielmehr ganz selbstbestimmt jeweils neu erfinden. Diese alles entgrenzen wollende Ich-Orientierung beanspruchte hier jedoch nicht, allein gültig zu sein, sondern räumte jedem anderen das gleiche Recht zu einer solchen Selbstbestimmung ein. Dass der junge Mann völlig selbstverständlich mit dem Spiel aufhörte, zeigt seine Bereitschaft, die Ansprüche anderer Ichs zu tolerieren, allerdings erst dann, wenn diese kundgetan werden. Der andere wird erst dann wahrgenommen und nach Möglichkeit respektiert, wenn auch er sein Ich zur Geltung bringt. Damit aber wird auch eine neue Art des Miteinanders erkennbar: Man muss sich einbringen und sollte tunlichst nicht die Erwartung hegen, der andere kenne oder spüre von sich aus meine Bedürfnisse und werde diese ungefragt respektieren.

    Dieses Buch handelt vom entgrenzten Menschen und ihrem Umgang mit Grenzen. Es beschreibt die heute allgegenwärtigen Entgrenzungsphänomene in ihrer psychologischen Relevanz. Damit soll bewusst die psychologische Perspektive in die Diskussion um die Entgrenzung eingebracht und gezeigt werden, welche Wirkungen ein ungebremstes Entgrenzungsstreben auf den Menschen hat. Digitale Technik, Vernetzung und elektronische Medien ermöglichen heute Entgrenzungsvorgänge, mit denen der Mensch sich,
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