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Sterben War Gestern

Sterben War Gestern

Titel: Sterben War Gestern
Autoren: Corinna Waffender
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Krankenakte, so Meyfarth, sei noch in der Verwaltung, und die müsse sie zuerst noch genauer studieren.
    „Einen guten Donnerstagnachmittag wünsche ich!“ Es war Dr. Zikowski, der die Gruppensitzung eröffnete. „Vielleicht machen wir erst mal eine kleine Befindlichkeitsrunde, wir haben uns schließlich zwei Tage nicht gesehen. Sagt doch bitte noch euren Namen dazu, wir begrüßen heute nämlich ein neues Mitglied in unserer Gruppe. Ich fange mal an: Mein Name ist Roland, in diesem Kreis duzen wir uns ja alle. Ich arbeite seit drei Jahren als Therapeut hier in der Klinik und das mit sehr viel Freude.“ Bei diesen Worten nickte er Inge lächelnd zu, und sie spürte, wie es in ihrer Brust enger wurde. Sie bemühte sich, souverän zurückzulächeln, und warf einen schnellen Blick in die Runde.
    „Wollen wir noch kurz an die Gruppenregeln erinnern?“, meldete sich nun Dr. Meyfarth zu Wort und gab die Antwort gleich selbst: „Alles, was wir hier besprechen, bleibt in dieser Gruppe. Wir reden mit den anderen Patienten nicht darüber, was wir hier hören und erleben, es ist ein Schutzraum des Vertrauens und des Aufgehobenseins. Wir versuchen immer von uns selbst zu sprechen und nicht zu verallgemeinern, also nicht man denkt, sondern ich denke, zum Beispiel. Und das Allerwichtigste: Wir verlassen während der Therapiestunde nicht den Raum. Wir können aufstehen, im Raum herumgehen, uns, wenn es gar nicht mehr geht, aus dem Kreis bewegen, aber wir bleiben hier.“ Sie sah die anderen an: „Hab ich was vergessen?“
    „Pünktlichkeit!“, antwortete eine ältere Frau mit einem vorwurfsvollen Unterton in der Stimme, den Inge nicht mochte.
    „Stimmt. Wir wollen pünktlich anfangen und pünktlich aufhören, danke, Anita.“
    Anita nickte zufrieden und sah dabei zu einem sehr sportlich wirkenden Mann, der sich erst kurz nach der Begrüßung des Therapeuten auf den letzten freien Platz gemogelt hatte.
    Nacheinander nannten die Patienten ihre Namen, erzählten kurz, was sie in der Woche erlebt hatten, wie es ihnen gerade ging und was sie momentan beschäftigte. Je näher die Reihe an Inge Nowak kam, umso schneller purzelten ihre zurechtgelegten Worte im Kopf durcheinander. Was um alles in der Welt sollte sie sagen? Wie viel von sich preisgeben?
    Nun waren alle Augen auf sie gerichtet.
    „Inge. Inge Nowak.“ Als ob ihr Nachname hier von Bedeutung wäre.
    „Herzlich willkommen, Inge. Möchtest du uns vielleicht sagen, was du dir von deinem Aufenthalt in der Klinik erhoffst?“
    Inge sah den Therapeuten an, als hätte er Kisuaheli gesprochen. Und schüttelte den Kopf. Nicht ohne zu denken, dass sie sich wie ein kleines bockiges Mädchen benahm. Sie spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg.
    „Das ist in Ordnung. Vielleicht magst du es ja ein anderes Mal erzählen.“
    Wenn ich es nur wüsste, dachte Inge. Wenn ich nur wüsste, was ich hier soll.
    Manchmal konnte der Mensch alles um sich herum vergessen. Das kam vor allem vor, wenn er gefordert wurde, und es lag daran, dass er sich dabei beobachtete. An diesem Morgen hatte der Mensch kaum Zeit, sich daran zu erinnern, dass er töten wollte, denn er machte seine Sache mit Hingabe. Mit allen Sinnen bei dem zu sein, was man tat und zur selben Zeit neben sich zu stehen, erforderte große Konzentration. Vielleicht in etwa so, wie zwei Rollen in einem Theaterstück zu spielen: Niemand durfte merken, dass man ein- und derselbe Schauspieler war. Der Mensch hatte diese Fertigkeit schon früh gelernt. Wegducken hier, sich aufrichten da. Und immer die Wahrheit verstecken. Den Hunger, der kein Hunger, sondern Gier war, verschlucken bis zur nächsten Gelegenheit, ungesehen die weggeworfenen Pausenbrote aus den Papierkörben angeln, am frühen Nachmittag, bevor der Hausmeister sie leerte. Sich einverleiben, was die anderen übrig ließen, weil ihre Reste immer noch besser waren als der Inhalt des heimischen Kühlschranks. Die Scham aushalten, wenn es der Lehrer gut meinte und mit nach Hause kam. Nach Hause. Drei Zimmer für fünf im Erdgeschoss, ein Stockwerk über den Ratten. Jeder will aus der Siedlung raus, aber die von ganz unten, die bleiben, hieß es, oder vielleicht hatte der Mensch sich das auch nur ausgedacht, kurz bevor er dem Elend endgültig den Rücken kehrte. Den Ungelernten, den Ungehobelten, den Sozialhilfeempfängern und dem Geruch nach Kohl im Treppenhaus. Der Mensch besaß zu diesem Zeitpunkt nichts als ein Stück Papier, das bezeugte, dass er nicht dumm war. Den
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