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Sterben War Gestern

Sterben War Gestern

Titel: Sterben War Gestern
Autoren: Corinna Waffender
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Ewald. Der hob abwehrend die Hände. „Ich hab auf dem Anmeldezettel schon angekreuzt, dass ich Vegetarier bin.“
    Sie konnte sich nicht erinnern, überhaupt einen Anmeldezettel ausgefüllt zu haben. Aber sie konnte sich an einiges nicht mehr erinnern. Es gab in ihrem Kopf eine Zäsur, und dahinter lag ein tiefer Abgrund, dem sie sich nur ungern näherte. Schon die Vorstellung, zu nah an seinen Rand zu treten, verursachte ihr Schwindel. In ihrer Fantasie stand unweit davon ein Baum, an dessen Stamm sie manchmal lehnte und den sie, wenn sie besonders verzweifelt war, so fest umarmte, dass sie fast die raue Rinde an ihren Wangen spüren konnte. Von dort blickte sie in ihr Inneres, eine in Dämmerung getauchte Weite, die in der Ferne verschwamm. Irgendwo dahinter lauerte der Krater, in dem ein Teil ihrer Gedanken versunken war und damit auch ein Stück des unsagbaren Schmerzes.
    „ … wer eure Bezugstherapeuten sind?“
    Inge hörte Ewald sagen: „Wir sind beide erst heute Mittag angekommen. Ich hab noch gar nichts bekommen. Nur mein Zimmer.“
    „Wohnst du zum Strand raus?“, fragte Ellen Weyer interessiert. Sie hatte ein hübsches Gesicht und wache Augen. Schöne Augen, dachte Inge für einen Moment, und sofort stieg etwas Zitterndes in ihr auf und verschwand hastig hinter der Stirn.
    „Ja. Wunderbarer Seeblick.“ Ewald lehnte sich zurück. „Ich schau gern aufs Meer.“
    „Und du?“ Der Blick ihres Gegenübers traf sie unvorbereitet.
    Inge errötete, entschloss sich aber zur Offensive. „Mein Bezugstherapeut heißt Zikowski, meine Ärztin Meyfarth und beide zusammen sind ungefähr so groß wie mein Zimmer. Gott sei Dank keine Aussicht aufs Meer. Endlose Weite hab ich in mir genug.“
    Die drei am Tisch lachten herzlich, und zum ersten Mal entspannte Inge sich ein wenig. Sie war also offenbar noch gesellschaftsfähig und konnte Erheiterndes zu einem Gespräch beitragen.
    „Dann bist du in unserer Gruppe“, sagte Ellen. „Also, ich hab ja nur noch zweimal.“
    „Wie lange seid ihr denn schon hier?“, fragte Ewald die beiden Frauen.
    Ellen Weyer lächelte versonnen. „Ich drei Wochen, morgen ist mein letzter Tag.“ Sie machte einen zufriedenen Eindruck, überhaupt sah sie sehr entspannt und gut erholt aus.
    Anders Angela Esser. Ihre Stimme klang brüchig. „Ich bin vor sieben Wochen gekommen.“ Sie hielt den Blick gesenkt, als schämte sie sich für ihre Antwort und das, was sie nun hinzufügte. „Und ich muss wohl noch eine Weile hierbleiben.“
    Warum?, lag es Inge auf der Zunge, doch im letzten Moment hielt sie das Wort zurück. Sie war hier nicht beim Verhör, und im umgekehrten Fall hätte sie eine solche Frage unangemessen gefunden, mehr noch, sie fürchtete sich davor, dass sie ihr gestellt würde. Sie wollte niemandem erklären, weshalb sie hier war. Aber der Moment, in dem sie es müsste, würde kommen, da war sie ganz sicher.
    Zimmer 101 lag nach dem Mittagessen vollends im Schatten. Inge zog die Gardinen samt den Vorhängen zur Seite, öffnete die Balkontür und setzte sich in den Sessel davor. Hier konnte sie unmöglich rauchen, der Qualm wäre direkt in den Eingangsbereich abgezogen, und sie hätte ihren Koffer gar nicht erst auspacken müssen.
    „Im Haus und seiner näheren Umgebung“, so hatte Schwester Agathe erklärt, „herrscht absolutes Rauchverbot. Das gilt auch für die Balkone, die Gartenanlage und den Privatstrand. Einzige Ausnahme: der Raucherraum außerhalb, am Ende des Geländes. Wer innerhalb der Klinik woanders beim Rauchen erwischt wird, wird sofort und ohne Zögern nach Hause geschickt und trägt die Kosten selbst, die seiner Krankenkasse dadurch entstehen.“
    Inge war nach dem Essen ihrer Tischnachbarin Ellen in den Raucherbereich gefolgt: „Zwischen den Anwendungen hast du kaum Zeit hierherzukommen, um eine zu rauchen. Die meisten gehen einfach über die Straße in den Wald, hinter den Parkplatz. Geht schneller.“
    Sie waren stumm nebeneinander hergelaufen, bis Ellen schließlich fragte: „Was machst du denn sonst so?“
    Obwohl sie sich fest vorgenommen hatte, mit niemandem über ihren Beruf zu reden, hatte sie geantwortet: „Ich bin bei der Polizei.“ Das klang nach Uniform und verriet nicht allzuviel.
    „Wow!“
    Doch bevor Ellen hatte weiterbohren können, war Inge eingefallen zu sagen: „Du machst doch bestimmt auch was Interessantes.“
    Augenblicklich hatte sich Ellens Gesicht aufgehellt: „Ich bin Journalistin. Fest angestellt bei einer
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