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Der Fruehling des Commissario Ricciardi

Der Fruehling des Commissario Ricciardi

Titel: Der Fruehling des Commissario Ricciardi
Autoren: Maurizio de Giovanni
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I
    Noch konnte es niemand wissen, aber an jenem Nachmittag war der letzte Winterregen gefallen. Die Straße warf den schwachen Schein der Laternen zurück, die sich in der windstillen Luft nicht bewegten. Das einzige Licht zu dieser Abendstunde kam aus dem Salon des Herrenfriseurs. Drinnen polierte ein Mann einen Messingspiegel.
    Ciro Esposito war ein stolzer Vertreter seiner Zunft. Er hatte sein Handwerk schon als Kind gelernt: In dem Laden, der einst seinem Großvater und dann seinem Vater gehörte, fegte er die Haare tonnenweise vom Boden und wurde im Übrigen wie ein normaler Angestellter behandelt; vielleicht kassierte er sogar die ein oder andere Ohrfeige mehr, wenn er nicht blitzschnell Rasiermesser oder feuchte Lappen bereithielt. Doch es hatte ihm genutzt. Heute wie damals sah man in seinem Geschäft nicht nur Bewohner des Sanità-Viertels, die Leute kamen sogar aus Capodimonte zu ihm. Sein Verhältnis zu den Kunden war bestens: Er wusste, dass man zum Friseur nicht bloß der Haare oder des Bartes wegen ging, sondern vor allem, um eine kleine Auszeit von Frau und Arbeit zu nehmen, und gelegentlich auch von der Partei. Er hatte ein besonderes Gespür dafür entwickelt, im richtigen Moment zu plaudern oder zu schweigen, und wusste zu den wichtigsten Themen stets etwas beizutragen.
    Mit der Zeit war er zum Fachmann für Fußball, Frauen, Geldangelegenheiten und Fragen der Ehre geworden. Die Politik mied er, in jener Zeit ein gefährliches Terrain. Ein Obsthändler hatte sich einmal beklagt, weil es so schwierig war, Waren zu beschaffen. Daraufhin hatten vier Kerle,die man im Viertel nie zuvor gesehen hatte, aus seinem Wagen Kleinholz gemacht und ihn als »Verräterschwein« beschimpft. Auch Klatsch vermied er, man konnte nie wissen. Er sah seinen Salon voller Stolz als eine Art Klub, und deshalb sorgte er sich, dass das, was vor einem Monat vorgefallen war, einen Schatten auf sein ehrbares Geschäft werfen könnte.
    Ein Mann hatte sich in seinem Laden umgebracht; ein alter Kunde, noch aus den Zeiten seines Vaters. Er war ein jovialer, offenherziger Kerl gewesen, der Ciro jedoch immerzu sein Leid geklagt hatte: seine Frau, die Kinder, zu wenig Geld. Ein Beamter, Ciro erinnerte sich nicht an die Dienststelle, vielleicht hatte er sie auch nie gewusst. In letzter Zeit hatte sich die Miene des Mannes verfinstert, er schien abwesend, sprach nur noch wenig und lachte auch nicht über die legendären Witze des Friseurs. Seine Frau hatte ihn verlassen und die beiden Kinder mitgenommen.
    Ohne jede Vorwarnung hatte er, als Ciro ihm gerade sorgfältig mit dem Rasiermesser die linke Kotelette stutzte, dessen Handgelenk gepackt und sich mit einem einzigen, entschlossenen Ruck die Kehle durchgeschnitten, von einem Ohr zum anderen. Gott sei Dank waren Ciros Angestellter und zwei Kunden mit im Laden gewesen, sonst wäre es unmöglich gewesen, die Polizisten und den Richter davon zu überzeugen, dass es sich um Selbstmord handelte. Ciro hatte sofort alles sauber gemacht und hielt den Laden am nächsten Tag geschlossen, darauf bedacht, nichts durchsickern zu lassen. Zum Glück war der Tote aus einem anderen Viertel; in dieser abergläubischen Stadt war der Ruf schnell ruiniert.
    Daran dachte Ciro Esposito an jenem letztenWinterabend, als er sich nach dem Putzen anschickte, die beiden schweren Holzläden der Eingangstür zu verriegeln. In der Via Salvator Rosa war er der Einzige, der so spät Feierabend machte. Aber der Tag war noch nicht zu Ende. Ein Mann betrat den Salon und murmelte einen Gruß.
    Ciro kannte ihn, es war einer seiner merkwürdigsten Kunden: ein schlanker, mittelgroßer Herr um die dreißig mit dunklem Teint und schmalen Lippen, der meistens schwieg und auch sonst nicht weiter auffiel. Ungewöhnlich waren nur seine grünen, glasklaren Augen, und die Tatsache, dass er nie einen Hut trug, noch nicht einmal im Winter. Obwohl oder gerade weil er so wenig über ihn wusste, fühlte Ciro sich in seiner Gegenwart äußerst unwohl; natürlich konnte man es sich in diesen Zeiten nicht leisten, seine Kunden zu verärgern, erst recht nicht die Stammkunden, aber gerade dieser hier gehörte nicht zu den einfachsten. Er verhielt sich immer gleich: Jedes Mal grüßte er, nahm Platz, schloss die Augen wie im Schlaf und saß dann stocksteif auf seinem Lehnstuhl, als wäre er einbalsamiert. Nun also, auf ein Neues.
    »Guten Abend. Was darf ’s sein?«
    »Nur die Haare bitte. Nicht zu kurz. Etwas Schnelles.«
    »Sehr wohl, der
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