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Der Fruehling des Commissario Ricciardi

Der Fruehling des Commissario Ricciardi

Titel: Der Fruehling des Commissario Ricciardi
Autoren: Maurizio de Giovanni
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es der Frühling, das Blut geriet in Wallung. Und schließlich das Dunkel, das die Bilder seiner Schrecken barg, die letzte Erinnerung an die Zeit seiner Unschuld.
    Im Traum war der Mann wieder Kind und es war Sommer, die Hitze brannte ihm auf der Haut. Er lief mit gesenktem Kopf durch den Weinberg neben dem Anwesen seiner Eltern, wie immer spielte er allein. Im Traum roch er seinen Schweiß und die Trauben. Und auch Blut. Das Blut des Mannes, der im Schatten auf der Erde saß, mit ausgestreckten Beinen, die Arme am Boden, den Kopf auf der Schulter. Das Heft eines riesigen Messers ragte aus dem Brustkorb hervor wie ein Armstumpf, ein verstümmeltes drittes Glied. Im Schlaf hörte er den Mann auf wundersame Weise aufatmen.
    Wie damals hob der Tote den Kopf und sprach zu ihm, und das Schrecklichste daran war, dass es ihm, wie damals, kein bisschen merkwürdig vorkam. Im Traum wandte er sich abermals um und rannte weg; und der Mann, zu dem das Kind mittlerweile geworden war, wimmerte im Schlaf. Es würde ihm nicht gelingen, davonzurennen: Hundert, ja tausend Mal sollten die Toten noch aus unbekanntenMündern zu ihm sprechen, und ebenso oft würden sie ihn aus leeren Augen anstarren und knöchrige Finger nach ihm ausstrecken.
    Draußen vor dem Fenster wartete der Frühling.
III
    Ricciardi mochte Neapel am liebsten in den frühen Morgenstunden. Es waren kaum Leute unterwegs und außer den entfernten Rufen der ersten fliegenden Händler nur wenige Geräusche zu hören. Man begegnete keinen Blicken, man musste den Kopf nicht gesenkt halten, um das Gesicht, die Augen zu verbergen.
    Er freute sich über die Ankunft des Frühlings, doch war es eine zurückhaltende Freude, da er wusste, was ihn erwartete. Der Frühling, dachte Ricciardi, während er in Richtung Piazza Dante lief, verwandelte die Seelen der Menschen wie die Äste der Bäume; genau wie diese festen, dunklen Pflanzen, durch jahrhundertelanges Warten stark und unerschütterlich geworden, in dieser Jahreszeit vollkommen durchdrehten, indem sie knallig bunte Blüten zur Schau stellten, so setzten sich auch die besonnensten Leute die verrücktesten Ideen in den Kopf.
    Obwohl er kaum über dreißig war, hatte Ricciardi schon gesehen, und sah täglich von neuem, wozu die Menschen fähig waren, auch diejenigen, die für das Böse am wenigsten empfänglich schienen. Er sah weit mehr, als er gewollt hätte: den Schmerz, den überwältigenden, sich wiederholenden Schmerz. Den Zorn, die Bitterkeit, ja die überhebliche Ironie im Augenblick des Todes. Er hatte gelernt, dass der natürliche Tod einen Schlussstrich unter das Leben zog. Er ließ keine Ungewissheiten für die Zukunft,schnitt alle Fäden ab und vernähte die Wunden, bevor er sich mit seiner Last auf dem Buckel auf den Weg machte und sich die knochigen Hände am schwarzen Gewand abrieb. Anders der gewaltsame Tod, der hatte keine Zeit dazu, musste schnell wieder los. In jenen Fällen begann das Schauspiel, gewann der äußerste Schmerz vor Ricciardis Augen Gestalt: Nur er, der einzige Zuschauer im verwesten Theater der menschlichen Qual, war Zeuge dieser Aufführung. Seine Gabe nannte er es. Der Gedanke, den der Sterbende nicht abzuschließen vermocht hatte, prallte ihm entgegen und schrie nach Rache. Wer so aus dem Leben schied, schied mit zurückgerichtetem Blick und hinterließ eine Botschaft, die Ricciardi erhielt, indem er diesen letzten, zwanghaft wiederholten Gedanken hörte.
    Auf der Piazza Carità öffneten sich die ersten Fenstertüren und der Platz belebte sich allmählich. Auf seinem Weg zum Polizeipräsidium erkannte Ricciardi wie jeden Morgen, dass er gar keine Wahl gehabt hatte, er konnte nur diesen Beruf ausüben und sonst keinen.
    Er hätte nicht die Kraft gehabt, den Schmerz zu ignorieren und sich abzuwenden oder sein Geld ringsum in der Welt zu verprassen. Man kann sich selbst nicht entfliehen. Er wusste, dass seine Verwandten sich nicht erklären konnten, warum er, der einzige Sohn des verstorbenen Barons von Malomonte, nicht auch als Baron von Malomonte lebte und die gesellschaftlichen Kontakte nutzte, die ihm sein Name eröffnet hätte. Er wusste auch, dass seine alte Kinderfrau, die siebzigjährige Tata Rosa, die sich um ihn kümmerte, seit er klein war, ihm Gelassenheit und ein wenig Frieden gewünscht hätte. Niemand konnte sich sein Schweigen erklären, den gesenkten Blick, die immerwährende Schwermut, die ihn umgab.
    Ricciardi aber war es vorbestimmt, sich dem Abschiedsschmerz der Toten
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