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Der Fruehling des Commissario Ricciardi

Der Fruehling des Commissario Ricciardi

Titel: Der Fruehling des Commissario Ricciardi
Autoren: Maurizio de Giovanni
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Herr. Ich beeile mich. Wird nicht lange dauern. Nehmen Sie doch Platz.«
    Der Mann setzte sich und blickte sich rasch um. Ciro sah, wie er zusammenzuckte und einen Augenblick die Luft anhielt. War es Einbildung oder hatte er den Stuhl ganz hinten im Salon angestarrt, den des Toten? Allmählich wurde es bei Ciro zu einer fixen Idee: Es kam ihm vor, als würde jeder, der hereinkam, Blutflecken bemerken, obwohl er die doch so geduldig weggewischt hatte.
    Mit einer nüchternen Geste strich der Kunde sich eine widerspenstige Haarsträhne, die ihm bis zur schmalen Nase reichte, aus der Stirn. Im künstlichen Licht wirkte er noch blasser, wie ein Leberkranker. Der braune Teint erschien heute fast gelblich. Der Mann seufzte und schloss die Augen.
    »Fühlen Sie sich nicht wohl? Kann ich Ihnen ein Glas Wasser bringen?«
    »Nein, es geht schon. Bitte beeilen Sie sich.«
    Ciro begann, an den Nackenhaaren des Kunden herumzuschnippeln, er arbeitete flink. Er konnte nicht wissen, was der andere mit geschlossenen Augen nicht anzuschauen versuchte.
    Dieser sah hinten im Raum einen Mann sitzen: Der Kopf war zwischen die Schultern gesunken, die Hände lagen auf den Beinen, um den Kragen ein schwarzes Tuch, den Blick auf den Spiegel an der Wand gerichtet. Direkt über dem Tuch klaffte ein enormer Schnitt, wie ein von Kinderhand gemaltes Lächeln, aus dem in regelmäßigen Abständen ein Schwall Blut schwappte. Mit geschlossenen Augenlidern sah der Kunde, wie der Tote langsam den Kopf zu ihm umdrehte, und hörte ein leichtes Knirschen der Halswirbel, hörte, wie die beiden Fleischlappen der offenen Wunde gegeneinanderrieben.
    Mal sehen, was die Schlampe jetzt sagt. Jetzt, wo sie den Kindern den Vater genommen hat.
    Der Kunde legte die Hand an die Schläfe. Dem Friseur wurde es immer mulmiger zumute; um diese Uhrzeit lief draußen niemand mehr vorbei und sein Angestellter, dieser Nichtsnutz, war schon vor einer ganzen Weile gegangen. Was würde denn noch geschehen? Die Schereklapperte schneller und schneller. Der Mann hielt die Augen geschlossen, und Ciro sah, wie sich auf seiner Stirn Schweißperlen bildeten. Vielleicht hatte der Herr Fieber.
    »Gleich haben wir’s. Zwei Minuten noch und Sie können gehen.«
    Aus der Tiefe des Ladens hörte der Kunde erneut die Klage des Toten.
    Draußen, hinter der weit geöffneten Tür, herrschte Schweigen, und der Frühling wartete. Die Luft schien zu stehen.
    Das Geräusch der Schere klang dem Kunden in den Ohren wie ein verrückt gewordener Hummer. Er war entschlossen, das Flüstern des Toten zu ignorieren. Was willst du denn noch sehen? Gar nichts mehr wirst du sehen. Weder, was die Schlampe sagt, noch irgendetwas anderes.
    Der Friseur löste das Tuch vom Hals des Kunden.
    »So, der Herr, wir wären fertig.«
    Der Mann warf einige Münzen auf das Tischchen, das als Kasse diente, trat nach draußen und atmete tief durch. Er glaubte zu ersticken.
    Die feuchte Abendluft empfing Luigi Alfredo Ricciardi, Kriminalkommissar beim mobilen Einsatzkommando des königlichen Polizeipräsidiums von Neapel. Der Mann, der die Toten sah.

    Tonino Iodice kam zurück nach Hause zu Frau, Mutter und drei Kindern. Der Tag war lausig gewesen. Wie jeden Abend war er unten in dem alten Palazzo in der Via Montecalvario stehen geblieben, um seinem Gesicht den Ausdruck eines müden, doch zufriedenen Familienvaters zu verleihen, für den die Dinge gut laufen. Er wusste, dassdas nicht stimmte, aber er verstellte sich ihnen zuliebe, wollte die Last nicht auch auf ihre Schultern laden.
    Tonino hatte einen Pizzawagen gehabt und sich eigentlich ganz gut damit durchgeschlagen. Nur hatte er das nicht erkannt und unbedingt etwas Neues versuchen wollen. Jeden Morgen war er um fünf Uhr aufgestanden, hatte Teig und Öl vorbereitet, den Wagen fertig gemacht, sich möglichst warm angezogen, wenn es kalt war, oder sich im Sommer auf brennende Sonne eingestellt und war Richtung Stadt losgezogen. Jeden Tag derselbe Weg, dieselben Gesichter, dieselben Kunden.
    Die Leute mochten Tonino und hörten ihn gern bei der Arbeit singen, denn er hatte eine schöne Stimme. Er flirtete mit den hübschen Frauen, tat verliebt, und die lachten und sagten: Ja, ja, lass gut sein, Toni, gib’ die Pizza her und zieh los. Er war jemand, der gute Laune verbreitete, mit seinem Wagen, und die Polizisten gingen an ihm vorbei, ohne nach Genehmigungen und Konzessionen zu fragen. Manchmal blieben sie auch stehen und er bot ihnen eine Pizza an, ohne Geld dafür zu
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