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Hiobs Brüder

Titel: Hiobs Brüder
Autoren: Rebecca Gablé
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Erster Teil
Losian
Isle of Whitholm, Februar 1147
    »Sieh dich um, du Ausgeburt der Hölle«, knurrte der Mönch. »Wirf einen letzten Blick auf die Welt.«
    Unwillkürlich folgte Simon der Aufforderung, obwohl er sich so fest vorgenommen hatte, genau das nicht zu tun. Er blieb stehen, wandte sich um und blickte zurück über die rastlose, aufgewühlte See. Der Wind fuhr ihm ruppig durch die Haare und wehte ihm eine Strähne ins Auge, aber der Junge konnte nichts tun, um sie zurückzustreichen, denn die Brüder hatten ihm die Hände auf dem Rücken gefesselt. Anscheinend fürchteten sie, der fünfzehnjährige, schilfdünne Knabe sei in der Lage, es mit vier gestandenen Benediktinern gleichzeitig aufzunehmen.
    Ein Sonnenstrahl brach durch die bleifarbene Wolkendecke und tauchte das Meer und die flache Küste des Festlandes drüben in ein gleißendes, geradezu unirdisches Licht. Simon sah das Heidekraut aufleuchten, und der Turm der Klosterkirche, der eigentlich gedrungen und hässlich war, wirkte mit einem Mal filigran und schimmerte wie Elfenbein. Eine kleine Schafherde graste dicht zusammengedrängt unweit der klösterlichen Obstwiesen. Wie gelbe Wollflocken wirkten die Tiere aus der Ferne. Dann schob sich eine der schweren Wolken vor die Sonne, und das einsam gelegene St.-Pancras-Kloster versank wieder im Zwielicht.
    Nicht gerade überwältigend, hätte Simon gern gesagt, um der Welt, die ihn ausstieß, zu bekunden, dass er gut auf sie verzichten könne. Doch nicht einmal zu dieser trotzigen Lüge bekam er Gelegenheit, denn die Brüder hatten ihn geknebelt, damit er sie nicht verfluchen konnte.
    Der alte Mönch mit dem Glatzkopf und den weißen Haarbüscheln in den Nasenlöchern, der sich während des Exorzismus so in Rage gebetet hatte, dass er irgendwann ohnmächtig zusammengebrochen war, stieß den Jungen mit seinem knorrigen Gehstock zwischen die Schulterblätter. »Vorwärts!«
    Simon kehrte der Welt den Rücken.
    Das kleine, aber stabile Ruderboot, mit welchem die Brüder ihn hergebracht hatten, schaukelte auf den kurzen Wellen. Mit zwei dicken Leinen war es am Anlegesteg vertäut. Vermutlich graute den wackeren Brüdern davor, ihr Bötchen könne abtreiben und sie hier stranden, nahm Simon an.
    Keine dreißig Schritte vom Bootssteg entfernt erhob sich ein Palisadenzaun mit einem mächtigen hölzernen Torhaus.
    »Der Schlüssel, Bruder Martin«, drängte der mit den Nasenhaaren. Es klang ungeduldig und ein bisschen nervös.
    Sie hatten wirklich Angst vor ihm, wusste Simon. Jetzt ganz besonders. Sie fürchteten, im letzten Augenblick könne noch irgendetwas schiefgehen, könne er sich mithilfe der finsteren Mächte, die ihm innewohnten, befreien und sie alle niederstrecken oder in Regenwürmer verwandeln. Bruder Nasenhaar hielt seinen Eschenstock einsatzbereit hoch, und die hellen Augen strahlten unnatürlich. »Nun mach endlich«, drängte er seinen Mitbruder.
    Der nahm den größten Schlüssel, den Simon je im Leben gesehen hatte, vom Gürtel und steckte ihn in ein ebenfalls riesiges, schwarzes Vorhängeschloss. Erst als dessen Bolzen aus einer rostigen Öse gezogen war, konnten die beiden anderen Brüder den mächtigen Eisenriegel hochstemmen, der das Tor versperrte. Solche Schließkonstruktionen gehörten natürlich eigentlich auf die Innenseite eines Burgtors.
    Aber hier war eben alles anders.
    Die beiden jungen Mönche mussten ihre gesamte Kraft aufbieten, um einen der schweren Torflügel weit genug zu öffnen. Als der Spalt so breit wie ein Mann war, traf Simon ein tückischer Stoß mit dem Stockende in den Nacken, er torkelte über die Schwelle und fiel auf die harte Erde. Da er seinen Sturz nicht mit den Händen abfangen konnte, landete er auf der Brust, und für einen Moment konnte er sich nicht rühren. Als er Bruder Nasenhaar brummen hörte: »Gott sei dir gnädig, Söhnchen«, fuhr sein Kopf herum, aber schon schlug das Tor hallend zu.
    Simon wälzte sich auf die Seite, spürte eiskalten Schlamm unter der Wange und weinte.
    Er weinte lange und bitterlich. Er war zutiefst entsetzt über das, was ihm geschehen war. Er war einsam, und er hatte Angst. Vor der ewigen Verdammnis, die der ehrwürdige Abt ihm prophezeit hatte, aber noch ein bisschen mehr vor dem, was ihn hier erwarten mochte. Vor dem Rest seines Lebens.
    Er schluchzte, und als die Tränen ihm die Nase verstopften, bekam er mit einem Mal keine Luft mehr, denn der Knebel machte es ihm fast unmöglich, durch den Mund einzuatmen. Simon fing
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