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Staub Im Paradies

Titel: Staub Im Paradies
Autoren: Ernst Solèr
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ich verstehen kann. Jemand stößt mich unabsichtlich in den Rücken. Ich komme wieder zur Besinnung, konzentriere mich und versuche, mir anhand der beiden Löcher in der Windschutzscheibe auszumalen, woher die Schüsse kamen. Vielleicht aus Richtung der ockerfarbenen Felsen, die gut zweihundert Meter von uns entfernt aus dem Dschungelgrün ragen. Jemand zerrt mich auf die Seite. Es ist ein Mann mit weißem Hemd und himmelblauer Krawatte, der mit angsterfülltem Blick von ›Tigers‹ redet und mir andeutet, ich solle in Deckung gehen. Erschrocken erkenne ich, dass mehrere der Umstehenden nervös mit Waffen herumfuchteln und auf die Felsen zielen, hinter denen ich den Schützen vermute.
    »Vater!«, erreicht mich Annas verzweifelte Stimme durch den infernalischen Lärm.
    Ich drehe mich zu ihr um und sehe die Panik in ihren Augen. So verängstigt habe ich sie noch nie gesehen. Und ›Vater‹ hat sie mich das letzte Mal vor gut fünfzehn Jahren genannt, als sie nach ihrer Blinddarmoperation aus der Narkose aufwachte.
    Ich schüttle den Krawattenmann ab, gehe zu Anna hinüber und nehme sie in den Arm: »Ganz ruhig, alles wird gut!«
    Sie jedoch reißt sich abrupt von mir los und schreit mir ins Gesicht: »Scheiße, nein, das wird es eben nicht!«
    Ich zucke hilflos mit den Schultern. Natürlich hat sie recht – hier wird ganz bestimmt nichts mehr gut, so viel ist jetzt schon klar.
    Anna ballt die Fäuste und atmet ein paarmal tief durch, während ich nach meinen Murattis taste, nur um zu wissen, dass sie noch da sind. Dann sehen wir uns in die Augen – und plötzlich ist es, als erwache unser Kampfgeist wieder.
    »Hilf mir«, weist Anna mich an und schubst die Leute beiseite, um wieder zu Jürg zu gelangen. Ich kämpfe mich ebenfalls entschlossen durch die zeternden Massen mit ihr nach vorn. Anna hat offensichtlich vor, den inzwischen ohnmächtig Gewordenen aus dem vollkommen zerstörten Auto zu hieven.
    »Er muss sofort versorgt werden, in Pelmadulla gibt’s eine Klinik mit Operationssaal.«
    »Okay«, sage ich, auch wenn ich sie fast nicht verstehen kann durch das Geschrei der Leute und den Lärm der noch immer schrillenden Hupe.
    Ein Herr in einem piekfeinen Leinenanzug spricht uns an und erklärt, dass er Arzt sei. Der Mann mit der himmelblauen Krawatte trägt eilig Verbandszeug herbei. Anna reißt ihm die Mullbinden aus den Händen und wickelt sie hektisch um Jürgs Kopf, aber das Blut dringt sofort durch sie hindurch. Rainer liegt tot daneben. Der Doktor betrachtet ihn in aller Ruhe und schüttelt wissend seinen Kopf. Anschließend tastet er an Jürgs Bein herum, der heftig aufstöhnt. Ein etwa vierzehnjähriger Junge kriecht unter den verunfallten Wagen und bringt endlich die verdammte Hupe zum Schweigen. Der Arzt erhebt seine Stimme und erteilt Befehle. Nach und nach wird er erhört. Wenig später tragen zehn Leute Jürg vorsichtig hinüber zu unserem Wagen und hieven ihn auf den Rücksitz.
    »Los, Papa, fahren wir«, ruft Anna, springt auf den Fahrersitz und hantiert bereits mit dem Zündschlüssel herum. Ich beeile mich, ebenfalls in das Fahrzeug zu steigen. Aber kaum sitze ich, heißt mich Anna bereits wieder auszusteigen.
    »Bleib bei Rainer«, sagt sie mit Nachdruck.
    »Ich soll dich allein fahren lassen? Du spinnst wohl!«, wehre ich mich und sehe in ihren Augen für den Bruchteil einer Sekunde Unverständnis aufglimmen.
    »Jemand von uns muss doch bei ihm bleiben, Papa. Vermutlich wird bald die Polizei auftauchen.«
    Die Idee, sie allein losfahren zu lassen, passt mir überhaupt nicht. Ich könnte mir nie verzeihen, wenn ihr auf dem Weg ins Spital etwas zustoßen würde. Aber sie erhält überraschend Unterstützung von dem Mann mit der himmelblauen Krawatte, der beteuert, er fahre mich später, wohin ich wolle, ihm gehöre ein Minitaxi.
    Ich zögere.
    »Bitte!«, sagt Anna, »ich komme schon klar, vertrau mir einfach!«
    Ich gebe mich geschlagen und steige unter dem zustimmenden Gemurmel der Umstehenden wieder aus dem Auto. Statt meiner entern dafür jetzt andere Leute das Fahrzeug: zwei Bauern mit Gewehren, ein kleiner Junge und auch der Mann, der sich als Arzt vorgestellt hat.
    Anna legt den Gang ein und fährt los in Richtung Pelmadulla.
    Ich ziehe meine Murattis hervor und inspiziere nochmals ausgiebig den Unglücksort. Es strömen immer noch mehr Menschen heran und schimpfen, was das Zeug hält. Wer immer sich jetzt als Täter verdächtig machen sollte: Der Mob würde ihn ohne Federlesen
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