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Stadt der Schuld

Stadt der Schuld

Titel: Stadt der Schuld
Autoren: Eva-Ruth Landys
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die ausufernde Prostitution. Selbst heute ist zu beobachten, dass die Prostitution dann sprunghaft ansteigt, wenn die Verelendung in einer Gesellschaft zunimmt. Nichts anderes zeigte sich in den Industriestädten Englands. Prostitution war allgegenwärtig. Nicht nur Frauen prostituierten sich, sondern auch viele Männer und Kinder. Viele wurden dazu gezwungen. Nicht wenige ungeliebte Ehefrauen wurden – statt einer Scheidung, die ohnehin nicht möglich war für die einfache Bevölkerung – von ihren Ehemännern auf diese Weise »entsorgt«, gleichwohl wurden auch Kinder aus Not in die Prostitution verkauft. Geschlechtskrankheiten waren weit verbreitet. Da außerdem die zunehmend prüde und verlogene Sexualmoral des Victorianismus zu einem weiteren Aufschwung aller denkbaren Spielarten der Prostitution führte, wurde die Durchseuchung der Bevölkerung mit der Syphilis bald zu einer ernsten Bedrohung. 1863 sahen sich gar das Heer und die Marine genötigt, den Bordellbesuch von Angehörigen des Militärs unter Strafe zu stellen, da mehr Soldaten durch die Folgen der Geschlechtskrankheit starben als durch Kampfhandlungen. Die Verteidigungskraft des Königreichs schien zeitweise gefährdet. Syphilis ist zudem eine ausgesprochen tückische Krankheit. Häufig verschwindet sie nach grippeartigen Beschwerden für eine Weile, bricht dann aber bei einem gewissen Prozentsatz der Erkrankten in Schüben wieder aus. Aus der Literatur bekannt sind Folgen wie zum Tode führende geistige Umnachtung, die allerdings nicht so häufig ist, wie es den literarischen Erwähnungen nach den Anschein hat. Weitaus öfter treten eitrige Geschwüre in den Gelenkbeugen und auf den Schleimhäuten auf (so auch in der Mundhöhle) sowie eine Gesamtschwächung des Immunsystems. Eine weitere und immer tödliche Komplikation, die oft erst Jahre nach der eigentlichen Infektion auftritt, ist die im 19. Jahrhundert recht verbreitete Rückenmarkstuberkulose, die mit schrecklichen Schmerzen und Lähmungen einhergeht. Der Zusammenhang dieser Erkrankung mit der Syphilis war allerdings bis weit ins 20. Jahrhundert nicht bekannt.
    Wer keine Arbeit hatte und sich nicht prostituierte, landete fast zwangsläufig in der Kriminalität, die von der Regierung und den Magistraten mit äußerster Härte bekämpft wurde. Dabei nahm die Gesetzgebung keinerlei Rücksicht auf Jugend oder Gebrechlichkeit. Sowohl Kinder wie Alte, sogar Schwangere wurden wegen nichtigster Vergehen zu Gefängnisstrafen, häufig zu schwerer Zwangsarbeit, zur Deportation, manche gar zum Tode verurteilt. Besonders die Arbeit in den sogenannten Tretmühlen war dabei gefürchtet. In großen Holzrädern mussten ganze Gruppen von Delinquenten Mahlsteine antreiben. Der Verkauf des so gemahlenen Korns brachte den Verwaltungen der Städte eine ordentliche Summe Geld ein, was dazu führte, dass auch die Insassen der Armenhäuser dazu gezwungen wurden. Selbst heute noch ist die Tretmühle bei uns als unzumutbare Anstrengung sprichwörtlich. Zeitgenössische Berichte erzählen davon, dass manche zur Zwangsarbeit Verurteilte lieber den Tod durch den Strang wählten, als in die Tretmühlen geschickt zu werden.
    Da der Bevölkerung aufgrund der schieren Not oft nichts anderes übrig blieb, als straffällig zu werden, waren die Gefängnisse überfüllt, die Gerichte oft überfordert. Um 1840 gab es allein in London neunzehn Gefängnisse, die teilweise bis zu zweitausend Gefangene beherbergten. Doch waren die Gefängnisse nicht alle gleich. Gefürchtet waren zu Recht das Newgate, gleichzeitig das größte Gefängnis Londons, wie vor allem auch das Coldbath Fields House of Correction, das Eingang in diesen Roman gefunden hat. Der Satz, im Coldbath könne selbst der Teufel noch etwas lernen, war sprichwörtlich und verweist auf die menschenverachtenden Verhältnisse dort. Eine vergleichbar moderne Einrichtung war hingegen das Tothill Fields Prison. Auch begann man sich Gedanken über die Unterbringung und Behandlung der Gefangenen zu machen. 1842 war ein Jahr der Reformen. Charles Dickens brachte sich im Vorfeld wortgewaltig und nicht immer zum Besten ein. Im Wesentlichen gab es einen Richtungsstreit zwischen dem, »Silent System« und dem »Separate System«. Das Silent System erlaubte zwar, die Gefangenen in riesigen gemeinsamen Schlafsälen und gefängniseigenen Arbeitsstätten zu halten, untersagte aber jegliche Lautäußerung (außer im Gottesdienst) bei Strafe. Da die Kommunikation natürlich nicht einmal
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