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Stadt der Schuld

Stadt der Schuld

Titel: Stadt der Schuld
Autoren: Eva-Ruth Landys
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Victorianismus. Die beiden Zitate formulieren in großer Deutlichkeit das gesellschaftliche Dilemma dieser intensiven und rasanten Epoche.
    Bentham (1748 – 1832) gilt als Begründer des Utilitarismus (abgeleitet vom Lateinischen utilitas – Nutzen, Vorteil). Die Theorie des verantwortlichen Egoismus des Individuums war die offizielle Staatsdoktrin sowohl im ausklingenden Regency als vor allem auch im Victorianismus. Bentham gelang es mit seiner Doktrin, alte und verkrustete Feudalstrukturen aufzulösen, die auf willkürlichen theologischen Annahmen (göttliche Ordnung) und einem nebulösen Begriff des Naturrechts basierten. Stattdessen legte er als Ordnungsmacht der Gesellschaft den klaren Menschenverstand und den zweifellos vorhandenen Egoismus des Einzelnen zugrunde, der durch den Egoismus der anderen von allein begrenzt werde, sodass laut Bentham der Egoismus jedes Einzelnen schließlich zum Wohle aller gedeihen müsse. (Unser Protagonist Horace Havisham hat diese Lehre als junger Kaufmann, so wie viele andere reale Unternehmer und Händler seinerzeit, gewiss ins Stammbuch geschrieben bekommen.) Auch diese Theorie hat, das springt dem heutigen Leser sofort ins Auge, zweifellos eklatante Schwächen, was im Laufe des Romans ja auch einem Horace Havisham schmerzlich bewusst wird – dennoch brachte sie zunächst die notwendige Stabilität für die sich durch die Industrialisierung rasant verändernde Gesellschaft. Auch die Lehre des Freihandels, die im vorliegenden Roman ausführlich behandelt wird und die schließlich ab 1846 zur prägenden Wirtschaftsform der gesamten westlichen Welt wurde, basiert auf den Annahmen des Utilitarismus. Bereits im ersten Band der Trilogie war schon einiges über diese wesentliche Wirtschaftsform des 19. Jahrhunderts zu lesen, die unser Denken und vor allem das der angloamerikanischen Märkte bis heute prägt, wenn auch in modifizierter Form. Richard Cobden ist denn auch eine umstrittene Figur der Historie. Seine Ideen waren aber, wie nun in »Stadt der Schuld« ausgeführt, tatsächlich von einem tief empfundenen Willen zum sozialen Ausgleich getragen und wurden so auch von seinen engsten Freunden und Mitstreitern, John Bright und Archibald Prentice, verfochten. Zweifellos waren aber nicht alle Unterstützer der League, die sich vorwiegend aus dem Unternehmertum rekrutierte, nur dem humanitären Anliegen verbunden. Heutzutage wird hemmungsloser Kapitalismus synonym mit dem Manchester-Kapitalismus verwendet, dennoch meine ich, dass man den Ideen des Freihandels damit unrecht tut. Sie waren eine logische Folge der Weiterentwicklung des Utilitarismus und hatten, wie dieser, eine gesellschaftliche Verbesserung im Sinn, die – und das sollte betont werden – zunächst auch tatsächlich eintrat. Der Freihandel war es, der schließlich Entscheidendes für die bessere und dringend notwendige Versorgung der englischen Bevölkerung mit Grundnahrungsmitteln erreichte, und durch den freien Wettbewerb der Unternehmer auch eine direkte Verbesserung der Situation der Arbeiter anstieß, bevor die erstarkenden Gewerkschaften ein Gegengewicht zum Unternehmertum bildeten und weitere Erleichterungen für die Arbeiter erwirkten. Doch schließlich führte der Freihandel – durch immer hektischere Produktion und Wettbewerb besonders im Stahl- und Waffenbau – nicht etwa zum Weltfrieden, wie von seinen Befürwortern vorausgesagt, sondern, so bitter es erscheinen mag, in den Ersten Weltkrieg.
    Im Roman erfahren wir auch von den Schattenseiten, die die zugrunde liegende Gesellschaftstheorie des Utilitarismus hervorbrachte, da weitgehend auf staatliche Regulierungen der Gier des Einzelnen verzichtet wurde. Die Chancenverteilung war in der Realität natürlich niemals auch nur annähernd gerecht und so vertiefte sich im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts die Spaltung der Gesellschaft. Diese zergliederte sich einerseits in den sich machtvoll gegen die Neuerungen der Zeit stemmenden Adel, andererseits in ein aufstrebendes und finanziell bestens ausgestattetes Bürgertum, dem vor allem die Gruppe der Unternehmer zuzuordnen ist, aber auch diejenigen, die das Glück hatten, entsprechende Bildung zu erhalten (Juristen, Ärzte, Wissenschaftler, Beamte) und zuletzt in die riesige Anzahl derer, die völlig recht- und mittellos täglich ums nackte Überleben kämpften. Deren Nöte und beklagenswerte Lebensumstände, besonders was die Arbeiter in den Städten betraf, wurden mit dem Anwachsen der Industrie so
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