Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stadt der Schuld

Stadt der Schuld

Titel: Stadt der Schuld
Autoren: Eva-Ruth Landys
Vom Netzwerk:
unerträglich, dass sie sich nicht mehr länger ignorieren ließen. Historiker sprechen davon, dass allein in London um 1840 die Lebensumstände der einfachen Bevölkerung einen solchen Zustand der Verwahrlosung erreicht hatten, dass sich selbst Vergleiche zu heutigen indischen Großstadtslums nicht ziehen lassen. Noch weitaus schlimmer stand es in den typischen Industrieregionen der Insel, wie den Midlands, Yorkshire und Teilen von Wales. Namhafte Philosophen, wie Thomas Carlyle, John Ruskin, aber auch John Stuart Mill begannen, die Zustände in scharfen Worten anzuprangern. Schriftsteller, allen voran Charles Dickens, der als Kind selbst einige Zeit unter entsetzlichen Umständen leben und arbeiten musste, legten mit zu Herzen gehenden Schilderungen (siehe zum Beispiel Oliver Twist, The Pickwick Papers, Little Dorrit oder David Copperfield) den Finger in die schwärenden Wunden der Gesellschaft und rüttelten diese auf. Gleichzeitig mühten sich die Betroffenen selbst um mehr Einfluss. Chartismus gilt als erste basisdemokratische Bewegung in Europa und hat trotz ihres letztlichen Scheiterns Spuren in unserem Denken und unserer Theorie der gesellschaftlichen Gerechtigkeit hinterlassen. Die Aufspaltung der Chartisten nach dem Scheitern der großen Petition 1839 vor dem Parlament in einen eher größeren moderaten Teil und einen gewaltbereiten kleineren ist geschichtlich dokumentiert. Viele Chartisten, auch die moderaten, wurden verfolgt und verurteilt, manche zum Tode, viele zur Deportation. Die Bewegung der Chartisten verschwand nach dem endgültigen Fall der Schutzzölle 1846 schlicht und einfach dadurch, dass sich daraufhin relativ rasch die Lebensumstände der Arbeiter verbesserten.
    Aber bereits zuvor mochten einige vermögende, einflussreiche, teilweise sogar adelige Personen dem Elend nicht länger tatenlos zusehen und wurden karitativ tätig oder drängten auf Reformen. Man begann zu verstehen, dass Bildung, aber auch das Stillen der Grundbedürfnisse wie ausreichende Nahrung und menschenwürdiges Wohnen, eine unbedingte Notwendigkeit für das friedliche Zusammenleben aller darstellte. Politiker wie William Ewart Gladstone trugen mit ihrer Politik zum sozialen Ausgleich bei. Bis dahin war jedoch noch ein weiter Weg zurückzulegen.
    Eine der Maßnahmen, die sofort eingeführt wurden, waren Berichte und Statistiken über die Lebensumstände und den Gesundheitszustand der Armen, die von den Magistraten der Städte ab etwa 1832 systematisch angelegt wurden. So lagen mir für den Roman ausführliche zeitgenössische Schilderungen von Amtsärzten vor, die die abstoßende Wirklichkeit der Wohnverhältnisse und die Krankheiten in der Bevölkerung sowie deren Verbreitung beschrieben. Die Ärzte mühten sich nicht zuletzt darum, den Ausbruch von Seuchen zu ergründen und zu unterbinden. Ein schwieriges Unterfangen, wenn man bedenkt, dass weder Bakterien oder andere Organismen als Ursache von Krankheiten noch der Zusammenhang von Hygiene und Gesundheit bekannt waren. Zudem wuchsen die Städte so stark und unkontrolliert an, dass an eine Städteplanung mit ausreichender Gas- und Wasserversorgung sowie einem effektiven Abwassersystem nicht einmal ansatzweise zu denken war. Entsprechend hoch waren die Kindersterblichkeit und die allgemeine Sterberate. Das im Roman erwähnte durchschnittliche Sterbealter von fünfzehn Jahren in der Industriestadt Manchester gründet sich auf eine zeitgenössische Statistik um 1840.
    Doch viele Ärzte gaben sich mit den Umständen nicht zufrieden. Die Entdeckung der Pockenimpfung brachte eine erste Verbesserung der Volksgesundheit. Ein anderes beeindruckendes Beispiel ist die Aufdeckung der Verbreitungswege der Cholera (1854), die dem unermüdlichen und mit einem geradezu detektivischen Gespür ausgestatteten jungen Arzt John Snow zu verdanken ist. Die Cholera kostete allein auf der Insel über 30.000 Menschen das Leben und suchte in Wellen immer wieder ganz Europa und Asien heim. Snow entdeckte bei einem Ausbruch in London durch die sogenannte Mapping-Methode – das Verzeichnen der Erkrankten und Todesopfer auf einer Karte – die Verbreitung der Cholera über verseuchtes Wasser. Seine damals neu entwickelte Methode wird heute noch effektiv in der Seuchenbekämpfung eingesetzt.
    Dennoch blieben Krankheiten weiterhin ein überaus ernst zu nehmender Feind. Allen voran ist hier die Syphilis zu nennen, was uns zu einem weiteren, der unerträglichen Not geschuldeten Problem der Epoche führt:
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher